(aus dem Tagebuch einer geschiedenen Karrierefrau und Mutter)
Ich bin alleine, einmal mehr an einem Sonntagnachmittag.
Er ist nach Hause gefahren, noch vor dem Mittagessen. Bundesliga, Sonntagsspiel, es geht gegen den Abstieg. Die Jungs in der Kurve zählen auf ihn. Seit fünfzehn Jahren habe er kein Heimspiel verpasst.
Es gehört zu den Dingen, die ich wohl nie verstehen werde: Wie kann ein intelligenter, gebildeter Mann wie er derart von diesem Sport besessen sein, dass er immer wieder seine Wochenenden dafür opfert? Noch immer sehe ich diese kurze aber mehr als offensichtliche Irritation in seinem Blick, als ich letzte Wochen gewagt habe zu fragen, was ihm mehr bedeute, ich oder der Fussball.
Doch heute ist alles anders. Heute verzeihe ich ihm alles:
Er will mich heiraten!
Ich kann es immer noch kaum glauben. Er hat mir tatsächlich einen Antrag gemacht, heute Morgen im Bett. Ich glaubte erst zu träumen, als er mir die Worte ins Ohr hauchte. Aber die Hände, die meinen Körper liebkosten waren echt, genauso wie der Duft von meinem Shampoo in seinen Haaren. Er war schon unter der Dusche gewesen, während ich noch geschlafen habe, was ihn aber nicht daran hinderte, mir von neuem zu beweisen, wie ernst er es meinte.
Ich bin völlig überwältigt. Irgendwie geht das gerade etwas schnell. Eigentlich wollte ich ja den Nachmittag nutzen, um die Dossiers für die morgige Stadtratssitzung durchzuarbeiten. Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Die Schmetterlinge im Bauch überschlagen sich und auch an Schlaf ist nicht zu denken. Und dies obwohl ich nach dieser verrückten Nacht völlig ausgelaugt bin und gefühlt jeder Muskel schmerzt. Mein Gott, ich bin definitiv keine dreissig mehr!
Ob ich mir das gut überlegt habe, hat meine PR-Beraterin vor ein paar Tagen gefragt. Sie halte das für keine gute Idee, jetzt so kurz vor dem Wahlkampf. Die Beziehung zu einem zehn Jahre jüngeren Mann würde nicht zu dem Image passen, das wir die letzten Jahre sorgsam aufgebaut haben.
Doch was hat es mir gebracht, dieses Image einer reifen und doch so modernen Ehefrau und Mutter, die politisches Engagement und Familie wie selbstverständlich unter einen Hut zu bringen vermag? Unsere beiden Söhne sind bei erster Gelegenheit von zuhause ausgezogen, und kaum waren sie weg, hat mir mein Mann gestanden, dass er seit einem Jahre eine Geliebte hat und dass er mit ihr ein neues Leben anfangen möchte. Er sei dankbar für die Jahre mit mir und unseren tollen Söhne, auf die wir stolz sein dürfen. Ich sei eine wunderbare Frau und er bewundere mein Engagement. Aber er spüre, dass die ganzen Jahre etwas gefehlt habe, dass er eigentlich immer nur für uns gelebt habe und dass der Moment gekommen sei, sich selber und seine Bedürfnisse ernst zu nehmen und sein eigenes Leben zu wagen.
Erst als ich in meiner Verzweiflung wütend wurde und ihn anschrie, wie er mir das antun könne, nach allem, was ich für uns geopfert habe, bekam ich auch noch zu hören, dass ich egoistisch sei, dass sich immer alles nur um mich und meine Karriere drehe, und dass ich doch mal unsere Söhne fragen soll, warum sie so schnell das Weite gesucht haben. Er sei froh, endlich jemanden gefunden zu haben, der auch ihm einmal zuhöre… und ja, wenn ich es unbedingt wissen wolle: auch im Bett habe sie definitiv mehr zu bieten.
Meine Söhne haben mir seither immer wieder bestätigt, dass ich keine schlechte Mutter gewesen sei. Selbst mit meinem Ex-Mann habe ich mich wieder einigermassen versöhnt. Und nach Nächten wie heute, darf ich getrost davon ausgehen, dass es nicht nur an dem gelegen hat, was ich zu bieten hatte. Doch viel schlimmer als alle berechtigten und unberechtigten Vorwürfe war diese schreckliche Einsamkeit, die von einem Tag auf den anderen über mich hereinbrach.
Plötzlich war ich ganz alleine in diesem grossen Haus, das wir vor zwanzig Jahren für uns und unsere Kinder gebaut hatten. Für mindestens vier hatten wir damals geplant, vielleicht sogar fünf. Doch nach dem Zweiten bekam ich eine Depression, und als ich das Schlimmste überwunden hatte, war uns klar geworden, dass wir nicht zu mehr berufen waren. Das war eine schmerzhafte Erkenntnis, und sie wurde noch schmerzhafter, als mein Mann immer öfter auf Dienstreisen und meine Jungs tagsüber bei ihren Freunden waren.
Wie oft stand ich wie heute am Fenster in der vergeblichen Hoffnung, dass einer meiner Liebsten nach Hause komme und mich von der Einsamkeit erlöse. Und immer ist da diese diffuse Angst, begleitet von Stimmen die fragen: Trägt mein Kleiner auch wirklich seinen Fahrradhelm, wie ich es ihm eingeschärft habe? Ist mir mein Grosser immer noch böse, dass ich ihm gestern verboten habe, bei den Nachbarn zu übernachten? Wann ruft mein Mann an? Er müsste schon längst in Hamburg angekommen sein. Was ist, wenn die Ultras im Stadium heute wieder ausrasten? Und hat er das wirklich ernst gemeint heute Morgen? Habe ich ihm wirklich noch genug zu bieten mit meinen 46 Jahren?
Ich weiss, dass diese Angst irrational ist. Und darum habe ich mich entschlossen, nicht länger auf sie zu hören. Ich will versuchen zu glauben, und vor allem mir selber zu vertrauen. Es ist mir egal, ob ich damit mein Image ruiniere. Ich färbe meine grauen Haare, auch wenn ich dadurch weniger authentisch, seriös und reif aussehen sollte. Ich ziehe an, was mir gefällt und ja, ich stehe zu meinem altmodischen Twinset, auch wenn meine Beraterin die Augen verdreht und die Freundin meines Sohnes offenbar meinte, ich wolle wohl eine auf „Pick me Girl“ machen.
Soll sie nur spotten. Spätestens seit ich vor zwei Monaten meine grosse Liebe getroffen habe, kann mir das alles egal sein. Er liebt mich, so wie ich bin, ob mit oder ohne politische Karriere. Mit ihm kann ich reden, wandern, Musik hören und tanzen. Er zeigt mir neue Welten und ungeahnte Dimensionen an mir selber. Unter seinem Blick fühle ich mich zehn Jahre jünger. Aber vor allem holt er mich heraus aus der Einsamkeit und lässt mich spüren, dass ich nicht allein bin in dieser Welt, das ich wichtig bin für jemanden und dass ich es wert bin, geliebt zu werden.
Es tönt schrecklich kitschig, aber ich glaube, ich war noch nie so glücklich wie heute. Ich kann es kaum erwarten, seine Stimme zu hören.
Das Spiel ist seit einer halben Stunde zu Ende. Sie haben schon wieder verloren. Jetzt wird es eng mit dem Ligaerhalt. Ich kann seine Gefühle erahnen. Wie gerne würde ich ihm sagen, dass es mir leid tut… und wie sehr ich ihn liebe. Aber sein Telefon ist abgestellt. Und ich weiss, dass es so bleiben wird. Es ist immer so nach Niederlagen. Sie haben ihre Weise, damit umzugehen. Er hat nie darüber gesprochen.
So wird sein Schmerz auch zu meinem Schmerz. Es wird ein langer… ein einsamer Abend.
Einen Moment lang war ich versucht, ins Kloster zur Vesper zu gehen. Doch wozu? Ich hätte keine Gelegenheit, mit meiner neuen Freundin zu sprechen. Die Schwestern verschwinden nach dem Segen immer gleich zum Essen. Ich werde mich bis morgen gedulden müssen.
Und da ist sie wieder, diese Angst vor dem Alleinsein, vermischt mit dem wachsenden Schuldgefühl, für die morgige Sitzung noch gar nicht vorbereitet zu sein.
Doch nein, diesen milden Frühsommerabend lasse ich mir nicht nehmen!
Und so setze ich mich nun mit einer Flasche Wein in den Garten, kuschle mich in die Jacke meines Twinsets und höre mir in aller Ruhe den YouTube-Link an, den die Freundin meines Kleinen mir heute zugeschickt hat: AMOUR von The Warning
Plead for me, bleed for me
show me that I’m worth it!
Am I worth it?
Say if I were dying
would you die for me?
*******
„Ich beneide dich um deine Gemeinschaft“, habe ich meiner Freundin gesagt, als wir heute Nachmittag wie oft am Montag dem Fluss entlang gejoggt sind. „Das stelle ich mir schön vor am Leben im Kloster: dass man nie einsam ist“.
Mein Gott, wie ich mich schäme, das aufzuschreiben! Wenn ich es wenigstens ironisch gemeint hätte. Aber nein, genau das war es, woran ich gedacht habe, als ich gestern Abend beim letzten Glas Wein im Garten sass und mein Alleinsein beweint habe. Und wenn ich diesen Gedanken gestern noch den Folgen des Alkohols hätte zuschreiben können, so war es heute einfach nur reine Naivität. Ich rechne es der jungen Nonne hoch an, dass sie mich die Peinlichkeit dieses Momentes in keiner Weise hat spüren lassen.
Wir kennen uns noch nicht sehr lange. Und doch habe ich das Gefühl einer tiefen Vertrautheit, wenn ich mit ihr unterwegs bin. Wir waren uns das eine oder andere Mal bei der Brücke begegnet, dem Wendepunkt unserer Joggingrunde. Doch mehr als ein „Hallo“ hatten wir nie ausgetauscht. Sie war in ihre Dehnübungen vertieft und ich hatte Joe Bonamassa auf dem Kopfhören. Doch dann war da diese Beerdigungsfeier für den alten Domherrn, an der ich in offizieller Mission die Stadtregierung vertreten habe. Und plötzlich stand diese schwarze Nonne vor mir, die mich mit einem erstaunlich jungen und vage vertrauten Gesicht anstrahlte und mir ein Tablett mit Wein und Orangensaft offerierte. Unter Joggern würde man sich ja eigentlich duzen, meinte sie lächelnd, nachdem wir beide den Wein gewählt hatten. Ich habe sie beim besten Willen nicht erkannt, und nie im Leben hätte ich es gewagt, einer ehrwürdige Klosterfrau das Du anzubieten.
Als wir uns das nächste Mal bei der Brücke trafen, verbrachten wir bereits mehr Zeit mit Reden als mit Dehnen. Und irgendwann hatte sie dann vorgeschlagen, uns doch gemeinsam zum Joggen zu treffen. Ich hatte erst gezögert, weil sie doch einiges jünger ist als ich, doch meine Angst, dass sie meinetwegen Rücksicht nehmen müsste, wich schnell einem gewissen Stolz, als ich feststellte, dass es mir bedeutend leichter fällt als ihr, während des Laufens zu reden. Diesem Umstand war es wohl zu verdanken, dass meine peinliche Bemerkung heute erst einmal ohne unmittelbare Reaktion blieb.
Auf dem Rückweg wurden wir vom ersten Sommergewitter überrascht und beim Sprint zu dem schützenden Bootsunterstand konnte sie nicht mehr mit mir mithalten. Es scheine mir, sie habe etwas zugelegt, hörte ich mich sagen, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war und sich neben mich auf eines der Boote gesetzt hatte. Ja, das habe sie, meinte sie verlegen, das sei wohl nicht zu übersehen. Ihre Hüften waren kräftiger geworden unter der blauen Trainingshose, ihre Wangen glühten rund und unter ihrem Top zeichnete sich der Ansatz eines Bäuchleins ab.
Ich sei die erste, die sie darauf anspreche. Soviel zum Thema Gemeinschaft im Kloster: Keiner ihrer Mitschwestern sei es aufgefallen, und wenn doch, haben sie nichts gesagt, nicht einmal die Priorin, ihre einzige wirkliche Freundin unter den Schwestern. Ja, so sei das Leben im Kloster: sie beten miteinander, arbeiten miteinander, essen miteinander, aber ansonsten habe man sich oft nicht viel zu sagen. Jede lebe in ihrem eigenen kleinen Winkel, pflege ihre Vorlieben und hoffe, dass man sie in Ruhe lässt. Wer mit Einsamkeit nicht umgehen kann, überlebt hier nicht lange.
Ihre Stimme klang ruhig, fast fröhlich, doch der Ausdruck ihrer Augen sprach eine andere Sprache. Schweigend betrachteten wir das Prasseln des Regens vor unseren Füssen, während ich irgendwie nachzuvollziehen versuchte, was ich eben gehört hatte. Ich stellte sie mir vor, in dem schwarzen Gewand, alleine in ihrer Zelle, während über uns Blitz und Donner tobten. Und plötzlich überkam mich meine eigene Einsamkeit. Unwillkürlich legte ich meine Hand auf ihren Arm, aber die Worte die ich sagen wollte, fand ich nicht.
Keine Angst, es gehe ihr gut, half sie mir aus der Verlegenheit, indem sie ihre Hand auf meine legte. Auch sie werde eben älter, bewege sich nicht mehr so viel und esse gerne mal etwas Süsses zwischendurch… gegen die Einsamkeit. Das Schmunzeln auf ihrem Gesicht war einfach göttlich.
Aber nein, sie habe im Moment keine speziellen Sorgen… abgesehen natürlich von der Frage der Zukunft. Sie sei die Jüngste im Kloster gefolgt von der Priorin. Nach ihr sei keine mehr eingetreten. Und mit den zwei Schwestern im Pflegeheim seien sie noch 18, die meisten davon über 70. Immer mehr Aufgaben lasten auf immer weniger und immer schwächeren Schultern. Und seit dem Tod des alten Domherrn hätte sie zum ersten Mal in der Geschichte des Klosters nicht mehr jeden Tag eine heilige Messe.
Keine speziellen Sorgen! Ich kann es nicht fassen. Diese blühende junge Frau lebt in einer dahinsterbenden Seniorenresidenz, muss früher oder später den ganzen Laden begraben, frisst Schokolade gegen die Einsamkeit und behauptet allen Ernstes, keine Sorgen zu haben! Sorry, aber das kann ich nicht verstehen. Wie hält sie das bloss aus? Warum tut sie sich das an? Ist es dieser Jesus wirklich wert? Findet sie wirklich so viel Trost bei ihm in all diesen Stunden des frommen Betens? Tut er etwas gegen ihre Einsamkeit?
„Jein“, hörte ich sie sagen, nachdem sie meinen emotionalen Ausbruch eine Weile hat wirken lassen.
Nein, weil sie Gott schon seit einiger Zeit nicht mehr spüre im Gebet. Früher sei das anders gewesen. Da habe sie seine Gegenwart erfahren und seine Stimme gehört, wann immer sie ihn gesucht und gebraucht hat. Doch heute sitze sie oft einfach nur da mit ihren Gefühlen und Gedanken, manchmal ruhig und gesammelt, meist aber eher trocken und zerstreut, und ja, manchmal auch einsam.
Doch ja, irgendwie wisse sie, oder zumindest glaube sie zu wissen, dass er da ist, auch wenn sie nichts spürt. Manchmal frage sie sich schon auch, wozu sie da herumsitze und meditiere. Aber wenn sie es nicht tut, dann fehle ihr etwas. Da ist eine Sehnsucht nach seiner Nähe, die offenbar auch dann gestillt wird, wenn sie einfach nur da ist. Vielleicht sei es so wie bei einem gereiften Liebespaar, wo es auch nicht dauernd Worte und Gesten braucht, um zu wissen, wie sehr man sich liebt.
Das Wichtigste aber sei wohl, dass sie Gottes Gegenwart und Trost gar nicht mehr unbedingt in den Stunden des frommen Betens suche und finde, sondern indirekt in allem, was sie tue: im Alltag mit ihren Schwestern, in den Begegnungen mit Menschen wie mir, in schwierigen Entscheidungen, aber auch in der Gelassenheit, im Vertrauen und in einer gewissen Zuversicht, die es ihr jeden Morgen von neuem erlauben, aus den Federn zu kriechen. Gerade in Momenten der Einsamkeit spüre sie immer wieder eine Kraft, die ihr hilft, ja zu sagen zu ihren Gefühlen, den Schmerz auszuhalten und sich nicht davon unterkriegen zu lassen. Und immer wieder helfe ihr dabei der Gedanke, dass sie diese Einsamkeit mit so vielen anderen Menschen teile, und dabei werde ihr bewusst, wie gut es ihr eigentlich geht im Vergleich zu all denen, die wirklich nichts und niemanden haben im Leben.
Ich kann es immer noch nicht verstehen. Und auch die Bedeutung ihrer Worte entzieht sich meiner Erfahrung. Und doch hat sie mich berührt mit dem, was sie gesagt hat. Vielleicht waren es weniger die Worte selber, als die Art, wie sie es gesagt hat… und dass sie es gesagt… dass sie es mir gesagt hat. Wer bin ich, dass diese junge Ordensfrau ausgerechnet mir ihre Seele öffnet? Sie war so natürlich, authentisch und offen, als ob wir uns schon lange kennen und die besten Freundinnen wären. Und als wir uns verabschiedeten, hat sie mich spontan umarmt. Sie danke mir von Herzen für mein Fragen und mein Zuhören, und einfach für mein Dasein.
Ich wusste nicht, wie mir geschah und schaute mit Tränen in den Augen zu, wie sie mit einem fröhlichen Winken wieder in den Klostermauern verschwand. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wurde mir bewusst, dass ich ihr ja gar nicht erzählt habe, dass ich wieder heiraten werde.
Noch auf dem Heimweg habe ich versucht, ihn zu erreichen. Wie gerne hätte ich ihm erzählt, was ich gerade erlebt habe. Doch sein Handy war ausgeschaltet. Und immer noch keine Nachricht von ihm. Ich weiss, dass er geschäftlich unterwegs ist und heute ein paar wichtige Kunden besuchen musste. Aber einen kleinen Gruss zwischendurch hätte er mir doch schicken können.
Es ist unterdessen 22 Uhr und immer noch kein Lebenszeichen. Sechs Mal schon habe ich versucht, ihn anzurufen. Seit zwei Stunde habe ich es aufgegeben. Er wird es schon sehen, wenn er das Handy anschaltet.
Natürlich stelle ich mir tausend Fragen und bis vor zwei Stunde hatte ich es kaum ausgehalten vor Angst und Einsamkeit. Doch dann musste ich an meine Freundin denken, an ihre Einsamkeit in der dunklen Klosterzelle. Und plötzlich sah ich mein grosses, lichtdurchflutetes Wohnzimmer, mein schönes Haus, den bunten Garten. Ich musste an meine wunderbaren Söhne denken, den Grossen mit seiner Leidenschaft für die Musik und den Kleinen mit seiner temperamentvollen Freundin. Und plötzlich schien mein Schmerz erträglicher, plötzlich glaubte ich zu erahnen, was Etty Hillesum meint, wenn sie in ihrem Tagebuch über eine positive Form von Einsamkeit schreibt:
„Ich fühle mich darin verbunden mit jedem, mit allem und mit Gott… Ich fühle mich eingebettet in ein grosses Ganzes erfüllt mit Sinn, und ich habe den Eindruck, dass ich diese grosse Kraft, die in mir ist, auch mit anderen teilen kann.“
Bevor ich mich hinter mein Tagebuch setzte, habe ich spontan einer Parteikollegin angerufen, die seit drei Monaten wegen Burnouts krankgeschrieben ist – mein Gott, wie sehr hat sie sich gefreut! Dann habe ich alle Fenster geöffnet, die Jacke meines Twinsets aufs Sofa geworfen und mir ein Glas Wein besorgt, nur eines, dafür ein besonders gutes.
Und nun mache ich einen Punkt hinter mein Geschreibsel, setze mich unter den Sternenhimmel und höre mir den neuen YouTube-Link von The Warning an, den ich heute wieder bekommen habe: SURVIVE
You said that I was the one of your dreams
That your heart belonged to me
Now I believe I must move on
Because I think you won’t come home
Come home
Oh, I know I will survive
Even if you’re not by my side
Think this time I’ll say goodbye
*******
“Das nennt sich Ghosting, meine Liebe. Willkommen im Club!“
Ich mag meine zukünftige Schwiegertochter, ehrlich, aber an ihre direkte Art muss ich mich noch gewöhnen.
Dabei darf ich ihr zugutehalten, dass ihr Ausdruck für einmal frei war von jeglichem Spott. Im Gegenteil, sie wirkte unglaublich aufmerksam und empathisch, als sie heute Abend bei einem Glas Wein mit mir auf der Hollywoodschaukel sass und geduldig mein Elend teilte:
Seit über einer Woche hat er nichts mehr von sich hören lassen. Alle meine Versuche, ihn irgendwie zu erreichen, laufen ins Leere. Es ist, als ob es ihn nie gegeben hätte und als ob ich das alles nur geträumt habe. Doch da ist eine Zahnbürste in meinem Bad und eine offene Packung Präservative, die mich an Momente erinnern, die ich beim besten Willen nicht vergessen kann… und eigentlich auch nicht vergessen will.
Entsprechend tief sitzt der Schmerz bei mir, diese quälende Mischung aus Angst, Scham und Ohnmacht beim Gedanken, einmal mehr verführt, gebraucht und verlassen worden zu sein. Und diese bodenlose Trauer angesichts einer enttäuschten Hoffnung, die jeden Tag noch etwas mehr weh tut und die ich doch noch nicht bereit bin aufzugeben.
Umso erstaunlicher ist es, wie gut ich trotz allem die letzten Tage überstanden habe. Gerade heute Abend, als ich völlig erschöpft von der Kommissionssitzung zurück in meine Einsamkeit kam, hat mich der Gedanke an meine Schokolade naschende Nonne wieder einmal vor dem Schlimmsten bewahrt. Und als es mich doch noch zu überwältigen drohte, weil ich für einmal vergeblich auf einen neuen YouTube-Link von The Warning gewartet habe, läutete es plötzlich an meiner Tür.
Warum sie eigentlich gekommen sei, habe ich meine Besucherin gefragt, die geduldig neben mir ausgeharrt hat, bis der Strom meiner Tränen versiegt war und ich die Diagnose „Ghosting“ halbwegs verdaut hatte.
Keine Ahnung, meinte sie, während sie verträumt an ihrem Glas nippte und die ersten Sterne betrachtete.
Aber sie müsse doch irgendeinen Grund…
Muss denn immer alles einen Grund haben? Und selbst wenn, müssen wir diesen unbedingt kennen?
Aber sie hätte doch vorher anrufen können, dann hätte ich…
Ja, dann hätte ich mir bestimmt intensiv Gedanken gemacht, wäre lange in der Küche gestanden, hätte dann mein Twinset und die Perlen hervorgeholt und die perfekte Schwiegermutter gespielt… und natürlich hätte ich alles getan, um sie mit meinem Schmerz und all den Tränen zu verschonen.
„Warum meinen wir eigentlich immer, alles müsse einen bestimmten Sinn haben?“, fragte sie schliesslich, indem sie das Glas lehrte und in ihre Lederjacke schlüpfte. Sei es nicht letztlich an uns, den Dingen einen Sinn zu geben?
Sie hat Recht. Sie war einfach da.
Dieses Dasein mit Sinn zu erfüllen, mich dadurch berühren und verwandeln zu lassen, das liegt allein an mir, in meiner Freiheit… und in meiner Verantwortung.
Zum Abschied habe ich sie spontan umarmt. Das habe ich noch nie gemacht. Nicht so.
Sie schien etwas überrascht, und als sie die Tür ihres Wagens öffnete, drehte sie sich noch einmal um und rief quer durch den Garten, woher ich dieses neue Kleid habe? Das sei voll schön! Und dieser lässige Strickmantel:
„Krass, du siehst grad zehn Jahre jünger aus!“
Na ja, wenn ich so in den Spiegel schaue… sie ist und bleibt eine Spötterin.
Wobei, irgendwie fühlt es sich doch grad ziemlich jung an… jedenfalls jünger als auch schon.