Warum sie? XXIX (die Stadträtin)

(aus dem Tagebuch einer geschiedenen Karrierefrau und Mutter)


Ich bin alleine, einmal mehr an einem Sonntagnachmittag.

Er ist nach Hause gefahren, noch vor dem Mittagessen. Bundesliga, Sonntagsspiel, es geht gegen den Abstieg. Die Jungs in der Kurve zählen auf ihn. Seit fünfzehn Jahren habe er kein Heimspiel verpasst.

Es gehört zu den Dingen, die ich wohl nie verstehen werde: Wie kann ein intelligenter, gebildeter Mann wie er derart von diesem Sport besessen sein, dass er immer wieder seine Wochenenden dafür opfert? Noch immer sehe ich diese kurze aber mehr als offensichtliche Irritation in seinem Blick, als ich letzte Wochen gewagt habe zu fragen, was ihm mehr bedeute, ich oder der Fussball.

Doch heute ist alles anders. Heute verzeihe ich ihm alles:

Er will mich heiraten!

Ich kann es immer noch kaum glauben. Er hat mir tatsächlich einen Antrag gemacht, heute Morgen im Bett. Ich glaubte erst zu träumen, als er mir die Worte ins Ohr hauchte. Aber die Hände, die meinen Körper liebkosten waren echt, genauso wie der Duft von meinem Shampoo in seinen Haaren. Er war schon unter der Dusche gewesen, während ich noch geschlafen habe, was ihn aber nicht daran hinderte, mir von neuem zu beweisen, wie ernst er es meinte.

Ich bin völlig überwältigt. Irgendwie geht das gerade etwas schnell. Eigentlich wollte ich ja den Nachmittag nutzen, um die Dossiers für die morgige Stadtratssitzung durchzuarbeiten. Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Die Schmetterlinge im Bauch überschlagen sich und auch an Schlaf ist nicht zu denken. Und dies obwohl ich nach dieser verrückten Nacht völlig ausgelaugt bin und gefühlt jeder Muskel schmerzt. Mein Gott, ich bin definitiv keine dreissig mehr!

Ob ich mir das gut überlegt habe, hat meine PR-Beraterin vor ein paar Tagen gefragt. Sie halte das für keine gute Idee, jetzt so kurz vor dem Wahlkampf. Die Beziehung zu einem zehn Jahre jüngeren Mann würde nicht zu dem Image passen, das wir die letzten Jahre sorgsam aufgebaut haben.

Doch was hat es mir gebracht, dieses Image einer reifen und doch so modernen Ehefrau und Mutter, die politisches Engagement und Familie wie selbstverständlich unter einen Hut zu bringen vermag? Unsere beiden Söhne sind bei erster Gelegenheit von zuhause ausgezogen, und kaum waren sie weg, hat mir mein Mann gestanden, dass er seit einem Jahre eine Geliebte hat und dass er mit ihr ein neues Leben anfangen möchte. Er sei dankbar für die Jahre mit mir und unseren tollen Söhne, auf die wir stolz sein dürfen. Ich sei eine wunderbare Frau und er bewundere mein Engagement. Aber er spüre, dass die ganzen Jahre etwas gefehlt habe, dass er eigentlich immer nur für uns gelebt habe und dass der Moment gekommen sei, sich selber und seine Bedürfnisse ernst zu nehmen und sein eigenes Leben zu wagen.

Erst als ich in meiner Verzweiflung wütend wurde und ihn anschrie, wie er mir das antun könne, nach allem, was ich für uns geopfert habe, bekam ich auch noch zu hören, dass ich egoistisch sei, dass sich immer alles nur um mich und meine Karriere drehe, und dass ich doch mal unsere Söhne fragen soll, warum sie so schnell das Weite gesucht haben. Er sei froh, endlich jemanden gefunden zu haben, der auch ihm einmal zuhöre… und ja, wenn ich es unbedingt wissen wolle: auch im Bett habe sie definitiv mehr zu bieten.

Meine Söhne haben mir seither immer wieder bestätigt, dass ich keine schlechte Mutter gewesen sei. Selbst mit meinem Ex-Mann habe ich mich wieder einigermassen versöhnt. Und nach Nächten wie heute, darf ich getrost davon ausgehen, dass es nicht nur an dem gelegen hat, was ich zu bieten hatte. Doch viel schlimmer als alle berechtigten und unberechtigten Vorwürfe war diese schreckliche Einsamkeit, die von einem Tag auf den anderen über mich hereinbrach.

Plötzlich war ich ganz alleine in diesem grossen Haus, das wir vor zwanzig Jahren für uns und unsere Kinder gebaut hatten. Für mindestens vier hatten wir damals geplant, vielleicht sogar fünf. Doch nach dem Zweiten bekam ich eine Depression, und als ich das Schlimmste überwunden hatte, war uns klar geworden, dass wir nicht zu mehr berufen waren. Das war eine schmerzhafte Erkenntnis, und sie wurde noch schmerzhafter, als mein Mann immer öfter auf Dienstreisen und meine Jungs tagsüber bei ihren Freunden waren.

Wie oft stand ich wie heute am Fenster in der vergeblichen Hoffnung, dass einer meiner Liebsten nach Hause komme und mich von der Einsamkeit erlöse. Und immer ist da diese diffuse Angst, begleitet von Stimmen die fragen: Trägt mein Kleiner auch wirklich seinen Fahrradhelm, wie ich es ihm eingeschärft habe? Ist mir mein Grosser immer noch böse, dass ich ihm gestern verboten habe, bei den Nachbarn zu übernachten? Wann ruft mein Mann an? Er müsste schon längst in Hamburg angekommen sein. Was ist, wenn die Ultras im Stadium heute wieder ausrasten? Und hat er das wirklich ernst gemeint heute Morgen? Habe ich ihm wirklich noch genug zu bieten mit meinen 46 Jahren?

Ich weiss, dass diese Angst irrational ist. Und darum habe ich mich entschlossen, nicht länger auf sie zu hören. Ich will versuchen zu glauben, und vor allem mir selber zu vertrauen. Es ist mir egal, ob ich damit mein Image ruiniere. Ich färbe meine grauen Haare, auch wenn ich dadurch weniger authentisch, seriös und reif aussehen sollte. Ich ziehe an, was mir gefällt und ja, ich stehe zu meinem altmodischen Twinset, auch wenn meine Beraterin die Augen verdreht und die Freundin meines Sohnes offenbar meinte, ich wolle wohl eine auf „Pick me Girl“ machen.

Soll sie nur spotten. Spätestens seit ich vor zwei Monaten meine grosse Liebe getroffen habe, kann mir das alles egal sein. Er liebt mich, so wie ich bin, ob mit oder ohne politische Karriere. Mit ihm kann ich reden, wandern, Musik hören und tanzen. Er zeigt mir neue Welten und ungeahnte Dimensionen an mir selber. Unter seinem Blick fühle ich mich zehn Jahre jünger. Aber vor allem holt er mich heraus aus der Einsamkeit und lässt mich spüren, dass ich nicht allein bin in dieser Welt, das ich wichtig bin für jemanden und dass ich es wert bin, geliebt zu werden.

Es tönt schrecklich kitschig, aber ich glaube, ich war noch nie so glücklich wie heute. Ich kann es kaum erwarten, seine Stimme zu hören.

Das Spiel ist seit einer halben Stunde zu Ende. Sie haben schon wieder verloren. Jetzt wird es eng mit dem Ligaerhalt. Ich kann seine Gefühle erahnen. Wie gerne würde ich ihm sagen, dass es mir leid tut… und wie sehr ich ihn liebe. Aber sein Telefon ist abgestellt. Und ich weiss, dass es so bleiben wird. Es ist immer so nach Niederlagen. Sie haben ihre Weise, damit umzugehen. Er hat nie darüber gesprochen.

So wird sein Schmerz auch zu meinem Schmerz. Es wird ein langer… ein einsamer Abend.

Einen Moment lang war ich versucht, ins Kloster zur Vesper zu gehen. Doch wozu? Ich hätte keine Gelegenheit, mit meiner neuen Freundin zu sprechen. Die Schwestern verschwinden nach dem Segen immer gleich zum Essen. Ich werde mich bis morgen gedulden müssen.

Und da ist sie wieder, diese Angst vor dem Alleinsein, vermischt mit dem wachsenden Schuldgefühl, für die morgige Sitzung noch gar nicht vorbereitet zu sein.

Doch nein, diesen milden Frühsommerabend lasse ich mir nicht nehmen!

Und so setze ich mich nun mit einer Flasche Wein in den Garten, kuschle mich in die Jacke meines Twinsets und höre mir in aller Ruhe den YouTube-Link an, den die Freundin meines Kleinen mir heute zugeschickt hat: AMOUR von The Warning

Plead for me, bleed for me
show me that I’m worth it!
Am I worth it?
Say if I were dying
would you die for me?

*******

„Ich beneide dich um deine Gemeinschaft“, habe ich meiner Freundin gesagt, als wir heute Nachmittag wie oft am Montag dem Fluss entlang gejoggt sind. „Das stelle ich mir schön vor am Leben im Kloster: dass man nie einsam ist“.

Mein Gott, wie ich mich schäme, das aufzuschreiben! Wenn ich es wenigstens ironisch gemeint hätte. Aber nein, genau das war es, woran ich gedacht habe, als ich gestern Abend beim letzten Glas Wein im Garten sass und mein Alleinsein beweint habe. Und wenn ich diesen Gedanken gestern noch den Folgen des Alkohols hätte zuschreiben können, so war es heute einfach nur reine Naivität. Ich rechne es der jungen Nonne hoch an, dass sie mich die Peinlichkeit dieses Momentes in keiner Weise hat spüren lassen.

Wir kennen uns noch nicht sehr lange. Und doch habe ich das Gefühl einer tiefen Vertrautheit, wenn ich mit ihr unterwegs bin. Wir waren uns das eine oder andere Mal bei der Brücke begegnet, dem Wendepunkt unserer Joggingrunde. Doch mehr als ein „Hallo“ hatten wir nie ausgetauscht. Sie war in ihre Dehnübungen vertieft und ich hatte Joe Bonamassa auf dem Kopfhören. Doch dann war da diese Beerdigungsfeier für den alten Domherrn, an der ich in offizieller Mission die Stadtregierung vertreten habe. Und plötzlich stand diese schwarze Nonne vor mir, die mich mit einem erstaunlich jungen und vage vertrauten Gesicht anstrahlte und mir ein Tablett mit Wein und Orangensaft offerierte. Unter Joggern würde man sich ja eigentlich duzen, meinte sie lächelnd, nachdem wir beide den Wein gewählt hatten. Ich habe sie beim besten Willen nicht erkannt, und nie im Leben hätte ich es gewagt, einer ehrwürdige Klosterfrau das Du anzubieten.   

Als wir uns das nächste Mal bei der Brücke trafen, verbrachten wir bereits mehr Zeit mit Reden als mit Dehnen. Und irgendwann hatte sie dann vorgeschlagen, uns doch gemeinsam zum Joggen zu treffen. Ich hatte erst gezögert, weil sie doch einiges jünger ist als ich, doch meine Angst, dass sie meinetwegen Rücksicht nehmen müsste, wich schnell einem gewissen Stolz, als ich feststellte, dass es mir bedeutend leichter fällt als ihr, während des Laufens zu reden. Diesem Umstand war es wohl zu verdanken, dass meine peinliche Bemerkung heute erst einmal ohne unmittelbare Reaktion blieb.

Auf dem Rückweg wurden wir vom ersten Sommergewitter überrascht und beim Sprint zu dem schützenden Bootsunterstand konnte sie nicht mehr mit mir mithalten. Es scheine mir, sie habe etwas zugelegt, hörte ich mich sagen, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war und sich neben mich auf eines der Boote gesetzt hatte. Ja, das habe sie, meinte sie verlegen, das sei wohl nicht zu übersehen. Ihre Hüften waren kräftiger geworden unter der blauen Trainingshose, ihre Wangen glühten rund und unter ihrem Top zeichnete sich der Ansatz eines Bäuchleins ab.

Ich sei die erste, die sie darauf anspreche. Soviel zum Thema Gemeinschaft im Kloster: Keiner ihrer Mitschwestern sei es aufgefallen, und wenn doch, haben sie nichts gesagt, nicht einmal die Priorin, ihre einzige wirkliche Freundin unter den Schwestern. Ja, so sei das Leben im Kloster: sie beten miteinander, arbeiten miteinander, essen miteinander, aber ansonsten habe man sich oft nicht viel zu sagen. Jede lebe in ihrem eigenen kleinen Winkel, pflege ihre Vorlieben und hoffe, dass man sie in Ruhe lässt. Wer mit Einsamkeit nicht umgehen kann, überlebt hier nicht lange.

Ihre Stimme klang ruhig, fast fröhlich, doch der Ausdruck ihrer Augen sprach eine andere Sprache. Schweigend betrachteten wir das Prasseln des Regens vor unseren Füssen, während ich irgendwie nachzuvollziehen versuchte, was ich eben gehört hatte. Ich stellte sie mir vor, in dem schwarzen Gewand, alleine in ihrer Zelle, während über uns Blitz und Donner tobten. Und plötzlich überkam mich meine eigene Einsamkeit. Unwillkürlich legte ich meine Hand auf ihren Arm, aber die Worte die ich sagen wollte, fand ich nicht.

Keine Angst, es gehe ihr gut, half sie mir aus der Verlegenheit, indem sie ihre Hand auf meine legte. Auch sie werde eben älter, bewege sich nicht mehr so viel und esse gerne mal etwas Süsses zwischendurch… gegen die Einsamkeit. Das Schmunzeln auf ihrem Gesicht war einfach göttlich.

Aber nein, sie habe im Moment keine speziellen Sorgen… abgesehen natürlich von der Frage der Zukunft. Sie sei die Jüngste im Kloster gefolgt von der Priorin. Nach ihr sei keine mehr eingetreten. Und mit den zwei Schwestern im Pflegeheim seien sie noch 18, die meisten davon über 70. Immer mehr Aufgaben lasten auf immer weniger und immer schwächeren Schultern. Und seit dem Tod des alten Domherrn hätte sie zum ersten Mal in der Geschichte des Klosters nicht mehr jeden Tag eine heilige Messe.

Keine speziellen Sorgen! Ich kann es nicht fassen. Diese blühende junge Frau lebt in einer dahinsterbenden Seniorenresidenz, muss früher oder später den ganzen Laden begraben, frisst Schokolade gegen die Einsamkeit und behauptet allen Ernstes, keine Sorgen zu haben! Sorry, aber das kann ich nicht verstehen. Wie hält sie das bloss aus? Warum tut sie sich das an? Ist es dieser Jesus wirklich wert? Findet sie wirklich so viel Trost bei ihm in all diesen Stunden des frommen Betens? Tut er etwas gegen ihre Einsamkeit?

„Jein“, hörte ich sie sagen, nachdem sie meinen emotionalen Ausbruch eine Weile hat wirken lassen.

Nein, weil sie Gott schon seit einiger Zeit nicht mehr spüre im Gebet. Früher sei das anders gewesen. Da habe sie seine Gegenwart erfahren und seine Stimme gehört, wann immer sie ihn gesucht und gebraucht hat. Doch heute sitze sie oft einfach nur da mit ihren Gefühlen und Gedanken, manchmal ruhig und gesammelt, meist aber eher trocken und zerstreut, und ja, manchmal auch einsam.

Doch ja, irgendwie wisse sie, oder zumindest glaube sie zu wissen, dass er da ist, auch wenn sie nichts spürt. Manchmal frage sie sich schon auch, wozu sie da herumsitze und meditiere. Aber wenn sie es nicht tut, dann fehle ihr etwas. Da ist eine Sehnsucht nach seiner Nähe, die offenbar auch dann gestillt wird, wenn sie einfach nur da ist. Vielleicht sei es so wie bei einem gereiften Liebespaar, wo es auch nicht dauernd Worte und Gesten braucht, um zu wissen, wie sehr man sich liebt.      

Das Wichtigste aber sei wohl, dass sie Gottes Gegenwart und Trost gar nicht mehr unbedingt in den Stunden des frommen Betens suche und finde, sondern indirekt in allem, was sie tue: im Alltag mit ihren Schwestern, in den Begegnungen mit Menschen wie mir, in schwierigen Entscheidungen, aber auch in der Gelassenheit, im Vertrauen und in einer gewissen Zuversicht, die es ihr jeden Morgen von neuem erlauben, aus den Federn zu kriechen. Gerade in Momenten der Einsamkeit spüre sie immer wieder eine Kraft, die ihr hilft, ja zu sagen zu ihren Gefühlen, den Schmerz auszuhalten und sich nicht davon unterkriegen zu lassen. Und immer wieder helfe ihr dabei der Gedanke, dass sie diese Einsamkeit mit so vielen anderen Menschen teile, und dabei werde ihr bewusst, wie gut es ihr eigentlich geht im Vergleich zu all denen, die wirklich nichts und niemanden haben im Leben.

Ich kann es immer noch nicht verstehen. Und auch die Bedeutung ihrer Worte entzieht sich meiner Erfahrung. Und doch hat sie mich berührt mit dem, was sie gesagt hat. Vielleicht waren es weniger die Worte selber, als die Art, wie sie es gesagt hat… und dass sie es gesagt… dass sie es mir gesagt hat. Wer bin ich, dass diese junge Ordensfrau ausgerechnet mir ihre Seele öffnet? Sie war so natürlich, authentisch und offen, als ob wir uns schon lange kennen und die besten Freundinnen wären. Und als wir uns verabschiedeten, hat sie mich spontan umarmt. Sie danke mir von Herzen für mein Fragen und mein Zuhören, und einfach für mein Dasein.

Ich wusste nicht, wie mir geschah und schaute mit Tränen in den Augen zu, wie sie mit einem fröhlichen Winken wieder in den Klostermauern verschwand. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wurde mir bewusst, dass ich ihr ja gar nicht erzählt habe, dass ich wieder heiraten werde.

Noch auf dem Heimweg habe ich versucht, ihn zu erreichen. Wie gerne hätte ich ihm erzählt, was ich gerade erlebt habe. Doch sein Handy war ausgeschaltet. Und immer noch keine Nachricht von ihm. Ich weiss, dass er geschäftlich unterwegs ist und heute ein paar wichtige Kunden besuchen musste. Aber einen kleinen Gruss zwischendurch hätte er mir doch schicken können.

Es ist unterdessen 22 Uhr und immer noch kein Lebenszeichen. Sechs Mal schon habe ich versucht, ihn anzurufen. Seit zwei Stunde habe ich es aufgegeben. Er wird es schon sehen, wenn er das Handy anschaltet.

Natürlich stelle ich mir tausend Fragen und bis vor zwei Stunde hatte ich es kaum ausgehalten vor Angst und Einsamkeit. Doch dann musste ich an meine Freundin denken, an ihre Einsamkeit in der dunklen Klosterzelle. Und plötzlich sah ich mein grosses, lichtdurchflutetes Wohnzimmer, mein schönes Haus, den bunten Garten. Ich musste an meine wunderbaren Söhne denken, den Grossen mit seiner Leidenschaft für die Musik und den Kleinen mit seiner temperamentvollen Freundin. Und plötzlich schien mein Schmerz erträglicher, plötzlich glaubte ich zu erahnen, was Etty Hillesum meint, wenn sie in ihrem Tagebuch über eine positive Form von Einsamkeit schreibt:

„Ich fühle mich darin verbunden mit jedem, mit allem und mit Gott… Ich fühle mich eingebettet in ein grosses Ganzes erfüllt mit Sinn, und ich habe den Eindruck, dass ich diese grosse Kraft, die in mir ist, auch mit anderen teilen kann.“

Bevor ich mich hinter mein Tagebuch setzte, habe ich spontan einer Parteikollegin angerufen, die seit drei Monaten wegen Burnouts krankgeschrieben ist – mein Gott, wie sehr hat sie sich gefreut! Dann habe ich alle Fenster geöffnet, die Jacke meines Twinsets aufs Sofa geworfen und mir ein Glas Wein besorgt, nur eines, dafür ein besonders gutes.

Und nun mache ich einen Punkt hinter mein Geschreibsel, setze mich unter den Sternenhimmel und höre mir den neuen YouTube-Link von The Warning an, den ich heute wieder bekommen habe: SURVIVE

You said that I was the one of your dreams
That your heart belonged to me
Now I believe I must move on
Because I think you won’t come home
Come home

Oh, I know I will survive
Even if you’re not by my side
Think this time I’ll say goodbye

*******

“Das nennt sich Ghosting, meine Liebe. Willkommen im Club!“

Ich mag meine zukünftige Schwiegertochter, ehrlich, aber an ihre direkte Art muss ich mich noch gewöhnen.

Dabei darf ich ihr zugutehalten, dass ihr Ausdruck für einmal frei war von jeglichem Spott. Im Gegenteil, sie wirkte unglaublich aufmerksam und empathisch, als sie heute Abend bei einem Glas Wein mit mir auf der Hollywoodschaukel sass und geduldig mein Elend teilte:

Seit über einer Woche hat er nichts mehr von sich hören lassen. Alle meine Versuche, ihn irgendwie zu erreichen, laufen ins Leere. Es ist, als ob es ihn nie gegeben hätte und als ob ich das alles nur geträumt habe. Doch da ist eine Zahnbürste in meinem Bad und eine offene Packung Präservative, die mich an Momente erinnern, die ich beim besten Willen nicht vergessen kann… und eigentlich auch nicht vergessen will.  

Entsprechend tief sitzt der Schmerz bei mir, diese quälende Mischung aus Angst, Scham und Ohnmacht beim Gedanken, einmal mehr verführt, gebraucht und verlassen worden zu sein. Und diese bodenlose Trauer angesichts einer enttäuschten Hoffnung, die jeden Tag noch etwas mehr weh tut und die ich doch noch nicht bereit bin aufzugeben.   

Umso erstaunlicher ist es, wie gut ich trotz allem die letzten Tage überstanden habe. Gerade heute Abend, als ich völlig erschöpft von der Kommissionssitzung zurück in meine Einsamkeit kam, hat mich der Gedanke an meine Schokolade naschende Nonne wieder einmal vor dem Schlimmsten bewahrt. Und als es mich doch noch zu überwältigen drohte, weil ich für einmal vergeblich auf einen neuen YouTube-Link von The Warning gewartet habe, läutete es plötzlich an meiner Tür.

Warum sie eigentlich gekommen sei, habe ich meine Besucherin gefragt, die geduldig neben mir ausgeharrt hat, bis der Strom meiner Tränen versiegt war und ich die Diagnose „Ghosting“ halbwegs verdaut hatte.

Keine Ahnung, meinte sie, während sie verträumt an ihrem Glas nippte und die ersten Sterne betrachtete.

Aber sie müsse doch irgendeinen Grund…

Muss denn immer alles einen Grund haben? Und selbst wenn, müssen wir diesen unbedingt kennen?

Aber sie hätte doch vorher anrufen können, dann hätte ich…

Ja, dann hätte ich mir bestimmt intensiv Gedanken gemacht, wäre lange in der Küche gestanden, hätte dann mein Twinset und die Perlen hervorgeholt und die perfekte Schwiegermutter gespielt… und natürlich hätte ich alles getan, um sie mit meinem Schmerz und all den Tränen zu verschonen. 

„Warum meinen wir eigentlich immer, alles müsse einen bestimmten Sinn haben?“, fragte sie schliesslich, indem sie das Glas lehrte und in ihre Lederjacke schlüpfte. Sei es nicht letztlich an uns, den Dingen einen Sinn zu geben?

Sie hat Recht. Sie war einfach da.

Dieses Dasein mit Sinn zu erfüllen, mich dadurch berühren und verwandeln zu lassen, das liegt allein an mir, in meiner Freiheit… und in meiner Verantwortung.

Zum Abschied habe ich sie spontan umarmt. Das habe ich noch nie gemacht. Nicht so.

Sie schien etwas überrascht, und als sie die Tür ihres Wagens öffnete, drehte sie sich noch einmal um und rief quer durch den Garten, woher ich dieses neue Kleid habe? Das sei voll schön! Und dieser lässige Strickmantel:

„Krass, du siehst grad zehn Jahre jünger aus!“

Na ja, wenn ich so in den Spiegel schaue… sie ist und bleibt eine Spötterin.

Wobei, irgendwie fühlt es sich doch grad ziemlich jung an… jedenfalls jünger als auch schon.

Warum sie? XXVIII (die Gräfin)

(aus den Aufzeichnungen einer versöhnten Urgrossmutter)

Ich habe Angst!

Warum habe ich mich nur darauf eingelassen?

Aber hatte ich überhaupt eine Wahl? War das nicht alles irgendwie vorbestimmt, von irgendeiner höheren Macht arrangiert? Gottes späte Strafe für die Sünde meiner Jugend?

Soviel Zufall kann es doch gar nicht geben. Warum spricht er ausgerechnet jetzt davon? Und warum ausgerechnet mit dieser jungen Nonne? Und wieso hat sie mich überhaupt auf diesem Bild erkannt? Sie kann es unmöglich schon einmal gesehen haben. Ich habe zwar auch eine Kopie davon, aber ausser meiner Hausdame hatte nie jemand Zutritt zu meinem Schlafgemach.

Das Foto von mir und dem Priester hatte eine Freundin von mir damals aufgenommen. Ich wusste nicht, dass es eine Kopie davon gab. Mein Exemplar lag seit Jahren unberührt in einem kleinen Koffer ganz zuunterst in meinem Kleiderschrank, zusammen mit ein paar Kleidern und dem alten Tagebuch. Ich hätte es wohl nie mehr hervorgeholt, wenn da nicht dieser Anruf gewesen wäre.

Eine Woche ist es nun her. Sie wisse nicht, ob ich mich an sie erinnern könne, meinte die sanfte Stimme am Telefon. Sie sei als Kind ein paar Mal bei uns auf dem Landschloss gewesen, zusammen mit ihrer Grossmutter, damals vor etwa 25 Jahren.

Mein Gott, natürlich erinnere ich mich an sie. Ihre Familie hatte über Generationen unser Vermögen verwaltet und ihre Grossmutter ist eine alte Freundin von mir. Sie hatte ihre Enkelin manchmal mitgenommen, wenn sie am Sonntag zum Bridge gekommen war. Die Kleine war ein etwas scheues und zurückhaltendes Kind. Aber ich fand sie zauberhaft. Sie verstand sich gut mit meinem Lieblingsenkel. Er war zwar schon etwas älter als sie und mitten in der Pubertät, aber die beiden bildeten ein hübsches Pärchen. Welche Oma hätte da nicht zu träumen begonnen. Es sollte einer von vielen unerfüllten Träumen bleiben. Schon Jahre bevor mir meine Freundin erzählt hat, dass ihre Enkelin ins Kloster eingetreten sei, hatte mir mein Enkel gestanden, dass er anders sei als andere Jungs.

Sie habe lange gezögert, ob sie mich anrufen solle. Die Nummer habe sie von ihrer Grossmutter bekommen. Ihr sei bewusst, dass sie wohl alte Wunden berühre, und sie könnte es gut verstehen, wenn ich von all dem nichts mehr wissen wollte. Aber sie habe sich gedacht, es könnte ja sein, dass es mir ähnlich gehe, wie dem alten Domherrn. Vielleicht hätten wir beide uns noch etwas zu sagen.

Ich wüsste nicht was, hatte ich der Nonne spontan geantwortet und das Gespräch ziemlich abrupt beendet. Was musste sie sich auch einmischen! Die Sache ist für mich längst abgehakt. Ein Jahr nach dem unglücklichen Intermezzo mit diesem jungen Priester hatte ich standesgemäss meinen lieben Baron von und zu geheiratet. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen, unsere fünf Kinder und fünfzehn Enkelkinder hatten mich seither davon bewahrt, mich mit den Dummheiten meiner Jugend befassen zu müssen. Und ich hatte nicht die Absicht, mir meinen neunzigsten Geburtstag und die Freude der anstehenden Geburt meines ersten Urgrosskindes durch diese alte Geschichte verderben zu lassen.

Nachdem ich jedoch zwei Nächte wach gelegen und vergeblich versucht hatte, mir die Sache aus dem Gewissen zu reden, habe ich schliesslich zum ersten Mal seit Jahrzenten diesen alten Koffer aus meinem Schrank geholt.

„Nimm dich vor diesem jungen Priester in Acht“, hat mir meine Cousine beim Abschied am Flughafen mit einem Augenzwinkern gesagt. Sie kenne diese Typen. Die verstecken sich hinter ihren Soutanen, spielen die Frommen und Keuschen, und träumen doch alle nur vom einen. Sie wissen genau, dass unsereins nie auch nur einen Blick an sie verschwenden würde, wenn sie nicht ehrwürdige Geistliche wären.
Und das sagt ausgerechnet sie, die als Teenager schon alle Angestellten verführt hatte. Ich hätte ihr am liebsten vor allen Leuten eine Ohrfeige verpasst. Für wen hält sie mich eigentlich. Ich kann ganz gut auf mich selber aufpassen.

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als ich nach all diesen Jahren zum ersten Mal diesen Tagebucheintrag las. Ich mochte meine Cousine. Wir hatten so manches zusammen erlebt und waren so etwas wie Seelenschwestern. Aber an diesem Tag war ich einfach nur wütend auf sie. Ich hatte damals alles getan, um mir nichts anmerken zu lassen, aber sie muss es gespürt haben: Mein Aufregung, meine Zerstreuung und die Folgen meiner schlaflosen Nächste, seit mir der Bischof ein paare Tage zuvor diesen jungen Priester vorgestellt hatte, der mich auf der Reise nach Japan begleiten sollte.

Doch von all dem steht nichts in meinem Tagebuch. Mein Gott, wie sehr hatte ich mich selber belogen, damals… und bis heute! Ich war einfach weggelaufen, hatte alle meine Sachen in einen Koffer gepackt und weggesperrt, auch meine Erinnerungen und Gefühle.

Doch nun liegt alles wieder da, offen vor mir: Der Rock und das edle Kaschmir Twinsets hatten irgendwann Besuch von einer Motte bekommen, aber der Rest schien noch ebenso frisch und aktuell wie vor über 60 Jahren… und das gilt auch für meine Wut, die Wut auf ihn und seine Kirche, vor allem aber die Wut auf mich selber, meine Scham und meine Schuldgefühle, die ich all die Jahre so erfolgreich verdrängt zu haben glaubte… und jetzt auch noch die Wut auf diese Nonne, die das Ganze wieder ins Rollen gebracht hat.

Und plötzlich hatte ich gestern den Telefonhörer in der Hand. Ich kann nicht länger davonlaufen. Ich muss mich der Wahrheit stellen. Das schulde ich… ja wem eigentlich?

*******

„Was hast Du eigentlich gegen Gott und die Kirche?“, fragte mich mein Lieblingsenkel, als wir auf die Autobahn Richtung Norden eingebogen waren.

Ist es Zufall, dass ausgerechnet er Zeit hatte, mich heute in dieses Kloster zu fahren? Meine beiden Töchter sind an diesem Wochenende bei ihren Kindern, und alle übrigen leben zu weit weg, um mir diesen Dienst zu erweisen. Ich hatte schon etwas gezögert, als meine Älteste mir vorschlug, doch einmal bei ihm anzufragen, er würde sich sicher freuen.

Da war ich mir nicht so sicher. Er weiss genau, wie sehr ich all die Jahre damit gekämpft habe, seine Realität anzunehmen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er damals zu mir gekommen war. Er hatte eben seine Matura mit Auszeichnung abgeschlossen und war im Begriff, sein Jus-Studium zu beginnen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieser intelligente, gut aussehende junge Mann… Natürlich hatte er schon immer einen leichten Hang zum Femininen. Und vielleicht war es ja gerade das, was mich so an ihm fasziniert und berührt hat. Aber ich hätte doch nie und nimmer gedacht… Wie konnte das passieren? Was hatten wir falsch gemacht? Was hatte ich falsch gemacht?

Doch seine Freude war spontan und echt, als ich ihn gestern schliesslich doch angerufen habe. Das treffe sich gut, hat er gemeint, sein Mann habe an diesem Wochenende Dienst im Krankenhaus und dessen Kinder seien bei ihrer Mutter. Und so stand er heute Morgen pünktlich vor der Tür, in einem dieser langen Daunenmäntel, die seit kurzem auch bei Männern in Mode sind. Ich muss zugeben, dass mir nicht ganz wohl war, als er mir in den wuchtigen, schwarzen SUV half. War es der ungewohnte Anblick dieses gewaltigen Wagens, oder doch der feine, etwas süssliche Duft seines Parfüms? Wie auch immer, ich brauchte nicht lange, um mich an die Umgebung zu gewöhnen, und zu meinem eigenen Erstaunen fühlte ich mich ausgesprochen wohl und entspannt, als wir schliesslich mit 150km/h über die Autobahn flogen.

Wenn da nur nicht seine Frage gewesen wäre. Wie kommt er darauf, dass ich etwas gegen Gott und die Kirche habe? Ich hatte mir nie etwas anmerken lassen. Damals, nach der Reise durch Japan, hatte ich die ganzen Projekte meines verstorbenen Vaters einer Stiftung übergeben. Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Aber natürlich hatte ich in der Kirche geheiratet und all meine Kinder waren getauft und gefirmt worden, wie sich das in unserer Familie gehört. Dass ich dabei nie mehr zur Kommunion gegangen bin, war scheinbar niemandem aufgefallen. Dabei habe ich nichts gegen Gott. Nein, aber gegen seine Kirche und die Art und Weise, wie sie mit Menschen umgeht die… na ja, er wisse schon. Und darum bin ich ehrlich gesagt auch nicht traurig, dass einzelne meiner Kinder begonnen haben, mit den kirchlichen Traditionen zu brechen. Das alles habe ich meinem Enkel zu erklären versucht, während die verschneite Landschaft an uns vorbeiflog.

Woher ich den Domherrn kenne, wollte er schliesslich wissen. Und nachdem ich ihm erzählt hatte, dass dieser als junger Priester mit uns in Japan gewesen sei, schaute er mich mit einem seltsamen Lächeln an. Ich wolle ihm doch nicht weismachen, dass das alles sei, und dass ich allein darum heute diese Reise auf mich nehmen würde. „Gib es zu, Oma, du hast ihn geliebt!“

Ich war so verblüfft, dass ich erst gar nichts zu sagen wusste. Wie kommt er bloss auf diese Idee? Ich hatte nie zuvor mit irgendjemandem über diesen Priester gesprochen.

Nie werde ich seine unendlich liebevollen Augen vergessen, als er eine gefühlte Ewigkeit lang meinem fassungslosen Blick standhielt. Als er sich wieder der Strasse zuwandte, lag ein nachdenklicher Zug auf seinem Gesicht, als ob er innerlich mit etwas ringen würde. Als sich seine Lippen schliesslich zögerlich bewegten, konnte ich ihn nicht verstehen.

„Es ist der Priester auf dem Foto, nicht wahr?“, wiederholte er seine Frage, indem er mir direkt in die Augen schaute.

Ich konnte es kaum fassen! Von was für einem Foto spricht er? Es gibt keinen Priester auf meinen Fotos… ausser auf diesem einen. Und dieses eine kann er unmöglich kennen. Ich hatte es selber seit über sechzig Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwie ging das plötzlich alles zu schnell für mich. Es war wie ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gab. Sprachlos sass ich da in dem dahinrasenden Wagen, hilflos mit dem Gurt an den Sessel „gefesselt“, während mein Enkel begann, mir in aller Ruhe sein Geheimnis zu „beichten“:

Ich sei verliebt gewesen, das würde man sofort sehen, habe die Kleine damals gemeint, als sie beide zufällig das Foto gefunden hätten. Mit der Kleinen war seine Jugendfreundin gemein, das Bankierstöchterchen, die Nonne, zu der ich unterwegs war. Er habe sie damals bei einem ihrer Besuche in sein Geheimnis eingeweiht. Während ich mit ihrer Grossmutter und weiteren Damen Bridge spielte, seien sie ins Arbeitszimmer meiner Hausdame eingedrungen. Diese hatte offenbar die Gewohnheit, an ihren freien Tagen die Schlüssel des Hauses in der Tasche ihrer Strickjacke zurückzulassen, wo mein Enkel sie eines Tages „zufällig“ gefunden habe. Einer der Schlüssel passte auch zu meinem Schlafgemach, und an diesem Tag seien sie beim Erkunden meines Kleiderschrankes auf den alten Koffer gestossen, dem er zuvor jeweils keine Beachtung geschenkt habe. Er hätte damals zu gerne in dem Tagebuch geblättert, aber die Kleine habe es ihm vehement verboten. Dafür habe sie umso eingehender das Bild studiert, während er sich mit den Kleidern beschäftigt habe. Er liebe das Gefühl von Kaschmir und die Grösse habe gerade noch gepasst, wobei das edle Twinset schon damals ein paar Mottenlöcher gehabt habe. Es waren definitiv die Kleider vom Bild und sie hätten sich natürlich gefragt, warum ich sie in diesem Koffer versteckt habe. Wie auch immer, die Hausdame muss irgendwann Verdacht geschöpft haben. Die Tür zu meinem Zimmer blieb danach für immer verschlossen, aber der mysteriösen Koffer habe ihn seither nicht mehr losgelassen und in ihm die wildesten Fantasien über meine Vergangenheit befeuert. Er müsse sogar zugeben, dass er eines Tages aus Wut und Enttäuschung versucht war, mir sein Wissen um mein vermeintliches Geheimnis an den Kopf zu werfen… damals, an diesem unseligen Tag, als ich ihm in meiner zornigen Verblendung verboten hatte, mit seinem Partner mein Haus zu betreten.  

„Ich habe dir verziehen, Oma, das weisst du, oder?“, sagte er mir, als er mich heute Abend beim Abschied auf dem Parkplatz vor dem Kloster fest in den Arm nahm. Mein Gott, ich glaube, es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich geweint habe, und das erste Mal überhaupt, dass mich jemand von meiner Familie hat weinen sehen. Aber ich konnte nichts sagen. Zu chaotisch sind die Gefühle, die heute in mir toben. Wie gerne hätte ich ja gesagt. Aber stimmt es auch wirklich? Bin ich bereit, mir verzeihen zu lassen? Habe ich ihm tatsächlich verziehen… und muss ich dazu nicht zuerst mir selber verzeihen?

Das Ganze war einfach zu viel für mich. Auf so viele Gefühle und Fragen war ich nicht vorbereitet. Und das Schlimmste steht ja erst noch bevor. Morgen nach der Sonntagsmesse will mich die junge Nonne zum Domherrn begleiten. Sie hatte am Empfang des Gästehauses auf mich gewartet. Ich hatte sie sofort erkannt trotz des schwarzen Gewandes und des Schleiers. Ihre Augen strahlen genau so wie damals. Kaum zu glauben, dass sie all die Jahre mein Geheimnis geahnt haben soll. Vielleicht ist es ganz gut, dass sie meinem Enkel nicht begegnet ist.

Eben hat es Mitternacht geschlagen. Ich habe schon zwei Tabletten genommen, aber ich kann einfach nicht schlafen. Die Nonne hat gesagt, ich solle vertrauen, es werde alles gut. Das Gleiche hatte auch schon mein Enkel gesagt, bevor er weggefahren ist. Doch ich habe Angst!

Ja, Gott, ich habe Angst! Ich wollte es nicht wahrhaben, doch alle die Jahre seit jenem verhängnisvollen Tag habe ich Angst. Du hast mich immer in Ruhe gelassen, und irgendwie schien mir das Recht zu geben in der Hoffnung, dass es dich gar nicht gibt. Doch wenn es dich wirklich gibt, dann hab Erbarmen mit mir…

Und wenn schon nicht mit mir, dann hilf wenigstens ihm und schenk deinem treuen Diener endlich Frieden!

*******

Mein Gott, wie friedlich er dagelegen hat, in der schwarzen Soutane und der Priesterstola, mit einem hölzernen Kreuz auf der Brust und dem Rosenkranz zwischen seinen gefalteten Händen. Er hatte die Augen geschlossen, doch sein Gesicht wirkte entspannt und hell, als ob ein Leuchten von ihm ausgehen würde. Ich hatte ihn sofort erkannt, auch nach all den Jahren.

Mir war sofort klar gewesen, dass etwas passiert sein musste, als es heute Morgen an meine Tür polterte und die junge Nonne schluchzend und um Atem ringend in ihrem langen, schwarzen Daunenmantel vor mir stand. Der Domherr sei nicht zur Frühmesse erschienen. Das sei sonst überhaupt nicht seine Art. Sie war sofort zu ihm nach Hause geeilt, wo sie ihn bewusstlos im Bad aufgefunden habe. Der Notarzt meinte, es sei wohl eine Gehirnblutung. Er sei auf dem Weg ins Krankenhaus.

Mir war schwindlig geworden und ich wäre wohl umgefallen, wenn die Nonne mich nicht aufgefangen und zum Sofa geführt hätte. Ich weiss nicht, wie lange wir uns weinend in den Armen gelegen haben. Ich trug noch mein Nachthemd und irgendwann hat sie mich in ihren Mantel gewickelt. Später ging sie uns ein Frühstück besorgen, während ich mich endlich ankleidete und etwas zurechtmachte.

Die Stunden schienen nicht vergehen zu wollen, während wir verzweifelt auf Nachricht warteten. Dabei schien die junge Frau noch mehr zu leiden als ich. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe. Es täte ihr so leid. Ohne sie wäre das alles nicht passiert. Wenn sie nur nicht dieses Twinset getragen hätte, damals bei ihrem Besuch im Kloster. Das hätte ja alles erst ausgelöst. Und warum sei sie nur auf die Idee gekommen, mich zu kontaktieren? Sie habe zwar dem alten Domherrn nicht gesagt, mit wem sie heute vorbeikommen wollte, aber was ist, wenn er es geahnt hat?

Ich versuchte vergeblich, sie zu beruhigen. Ich sei dankbar, dass sie mich angerufen habe, hörte ich mich in meiner eigenen Verzweiflung sagen. Ich hätte es ohne sie nie gewagt, aus dem Gefängnis meiner Selbstlüge auszubrechen. Ich hoffte und betete in diesem Moment, dass es nicht zu spät war.

Doch kurz nach Mittag kam die Nachricht aus dem Krankenhaus. Und eine Stunde später stand ich neben seinem Bett, gestützt von meiner jungen Begleiterin. Ich weiss nicht, was mit mir geschehen war, doch meine Angst war wie verflogen. Und als ich zögernd die noch warme Hand des Mannes berührte, dem ich vor über sechzig Jahren in einem Moment äusserster Verwirrung ins Gesicht geschlagen hatte, und der mir als letztes Bild den fassungslosen Schmerz in seinen Augen hinterlassen hatte, da glaubte ich plötzlich irgendwo in mir eine Stimme zu hören: „Ich habe dir verziehen, das weisst du, oder?“

„Sie haben Recht gehabt!“, sagte ich zu der „Kleinen“, als wir schliesslich im verschneiten Park des Krankenhauses in unsere Mäntel gehüllt auf einer Bank sassen und unsere Seelen an der winterlichen Sonne wärmten. Ja, ich bin damals verliebt gewesen. Jeder, der es sehen wollte, konnte es sehen. Es war klar, warum ich dieses Foto mit ihm all die Jahre nicht anschauen wollte. Und es ist auch klar, warum ich es damals trotz allem nicht weggeworfen hatte. Denn ich war weit mehr als verliebt. Ich war verrückt nach diesem Mann. Meine Cousine muss es geahnt haben. Und doch hatte sie sich geirrt. Es gab nicht den geringsten Grund, mich vor ihm in Acht nehmen zu müssen. Ganz im Gegenteil. Ich hatte versucht, ihn aus der Reserve zu locken, indem ich meinerseits keinerlei Interesse an ihm zu zeigen versuchte. Doch er hat mein vermeintliches Desinteresse wie selbstverständlich akzeptiert und sich diskret und bescheiden in den Hintergrund gestellt. Es war zum Verzweifeln, und irgendwann – nachts in einer kleinen Kapelle – hatte ich meine Strategie geändert. Was muss sich der Arme nur gedacht haben, als ich von einem Tag auf den anderen begann, ihm den Hof zu machen?

Es fällt mir immer noch schwer, das alles aufzuschreiben, und es fiel mir noch schwerer, es heute meiner jungen Freundin anzuvertrauen, aber ja, ich habe diesen Priester nach allen Regeln der Kunst zu verführen versucht. Es war meine Idee, an unserem letzten Abend zum Sonnenuntergang auf den Hügel zu steigen. Ich hatte meinen besten Rock und das edle Twinset hervorgeholt und nicht gezögert, auf die Verführungstipps meiner Cousine zurückzugreifen. Sie meinte immer, Grace Kelly werde schon ihre Gründe haben, warum sie die Jacke ihrer Twinsets so lässig über die Schultern gelegt trage. Ich weiss nicht, ob ihn das tatsächlich beeindruckt hatte, aber seine Reaktion, als ich mich schliesslich einfach so an seine Brust gelehnt habe, werde ich nie vergessen. Genau so wenig wie den Moment, als plötzlich die Glocke läutete und ich mir bewusst wurde, dass ich im Begriff war, einen Priester zu küssen.

Was für ein Moment der Gnade, all dies endlich einmal aussprechen zu dürfen und dabei von sanften Armen gehalten und von wohlwollenden Augen angeschaut zu werden! Ich fühlte mich unendlich leicht und glücklich, und gleichzeitig erfüllte mich ein tiefer Schmerz beim Bewusstsein, wie anders mein Leben – ja unser beider Leben – wohl gewesen wäre, wenn ich es schon früher gewagt hätte, meiner Wahrheit ins Gesicht zu schauen.

*******

Ich hätte seit 65 Jahren nicht mehr gebeichtet, habe ich heute einem alten Mönch in der Wallfahrtskirche gestanden und war dabei froh, ihm hinter dem Gitter des Beichtstuhls nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Ich sei eigentlich exkommuniziert, denn ich hätte einen Priester geschlagen.

Ich war auf alles gefasst gewesen, nur nicht auf dieses unterdrückte Lachen, das ich zu hören meinte: „Wer hat ihnen bloss diesen Quatsch eingeredet, gute Frau?“ ertönte eine warme Stimme neben meinem Ohr. Es sei ja wohl kaum der Papst gewesen, den ich geohrfeigt habe. Und der gute Priester dürfte sicher auch nicht ganz unschuldig gewesen sein. Ich solle als „Busse“ eine Stunde in die Gnadenkappelle sitzen und Gott für alles danken, was mir gerade in den Sinn käme.

Da sass ich nun inmitten einer Handvoll andächtig betender Menschen, verwirrt und immer noch etwas ungläubig, Und plötzlich, mitten hinein in die Stille, läutete das Telefon in meiner Tasche. Es war mein Lieblingsenkel: Seine Schwester lasse mich grüssen: es sei ein Mädchen!

Ich bin Urgrossmutter!

Ich war völlig überwältigt und konnte mein Glück kaum fassen, als wie aus dem Nichts ein junger Priester in schwarzer Soutane vor mir auftauchte und mich zornig anstarrte. Was mir einfalle, an diesem heiligen Ort zu telefonieren?

Wenn ich noch etwas jünger und agiler wäre, ich glaube, ich hätte ihm…

Warum sie? XXVII (der Domherr)

(aus den Erinnerungen eines alten Stadtpfarrers)

Mein Gott, ich habe ihm alles erzählt! Ausgerechnet ihm!

Er ist tatsächlich wiedergekommen und hat an Weihnachten die Festpredigten gehalten. Was für ein Segen! Ich hätte es nicht für möglich gehalten, nicht nach all dem, was mir die alte Schwester an der Pforte erzählt hatte.

Dabei hatte ich mich irgendwie schuldig gefühlt. Hätte ich ihn damals vor einem Jahr doch eingeladen, so wie ich es eigentlich vorgesehen hatte, dann wäre das alles nicht passiert. Dann hätte er diesen Abend nicht einsam und alleine im Kloster verbringen müssen.

„Du weisst Bescheid, oder?“, hat er mich mit einem scheuen Lächeln gefragt, als wir uns heute vor meinem Kaminfeuer bei einem Glas Lagavulin gegenübersassen. Ja, ich wusste Bescheid, und doch fiel es mir schwer, mir vorzustellen, wie dieser Mann mitten in der Nacht völlig betrunken im Kloster herumtobt und nach einer Petra ruft. Ausgerechnet er, dieser vorbildliche Priester, der beste und glaubwürdigste Prediger, dem ich seit Jahren begegnet bin. 

Spätestens als mir die Priorin erzählt hat, dass er für die Weihnachtstage wieder zu uns kommt, wusste ich auch, wer Petra war. Der freudige Glanz in ihren Augen war nicht zu übersehen. Und als sie mich vor vier Wochen an meinem 92. Geburtstag besucht hatte, hat sie mir alles „gebeichtet“. Sie sass im gleichen Sessel wie er heute, und auch sie liebt einen guten Whisky. Am liebsten hätte ich die beiden ja gemeinsam eingeladen, aber sie sei verhindert… und wir hätte uns sicher auch einiges zu erzählen, von Mann zu Mann.

Ihr schelmisches Augenzwinkern war mir dabei nicht entgangen. Was wollte sie mir damit sagen? Sollte sie tatsächlich bemerkt haben…?

Ich hatte damals alles getan, um mir nichts anmerken zu lassen, aber der Schock sass tief, als ich vor ein paar Jahren plötzlich einem Phantom begegnet bin. Es war an einem Sonntag im Gottesdienst. Die junge Frau sass alleine in der zweiten Bankreihe, direkt vor dem Pult, wo ich predigen sollte. Sie trug eines dieser klassischen Twinsets, dessen Jacke sie sich elegant um die Schultern gelegt hatte.

Ihre ganze Erscheinung, ihre aufrechte Haltung und ihr aufmerksamer Blick raubten mir förmlich den Atem. Meine alten Knie schienen unter mir nachgeben zu wollen und einen Moment lang hatte ich geglaubt, ohnmächtig zu werden. Ich versuchte mir verzweifelt einzureden, dass ich verrückt sei und dass die Gräfin doch auch schon gegen neunzig Jahre als sein musste, wenn sie überhaupt noch am Leben war. Aber die Erinnerung war geweckt und mit ihr all die verdrängten Emotionen, Sehnsüchte und Bilder… und das Gefühl einer brennenden Wange.

Ich weiss nicht, wie ich in diesem Zustand noch halbwegs vernünftig predigen konnte. Und als mir die junge Frau nach der Messe von der Priorin vorgestellt wurde, war ich einen Moment lang wie erstarrt. Ich hatte gehört, dass es da eine Kandidatin für den Klostereintritt gäbe, die Tochter einer angesehenen Bankiersfamilie. Aber ausgerechnet diese Frau! Das durfte nicht wahr sein! Die Ähnlichkeit war frappant, zumal sie nun auch noch den obersten Knopf ihrer Strickjacke geschlossen hatte, genauso wie die Gräfin, vor mehr als 60 Jahren.

Mein Bischof hatte mich damals als jungen Priester gebeten, eine Gruppe nach Japan zu begleiten. Ziel unserer Reise waren verschiedene Missionsprojekte, die ein deutscher Adliger nach dem Krieg initiiert hatte. Nach dessen frühem Tod wollte seine Tochter das Werk ihres Vaters weiterführen und sich dazu vor Ort ein Bild verschaffen. Die junge Gräfin hatte ein paar Tage vor der Abreise bei einem rauschenden Fest ihren 25. Geburtstag gefeiert und war noch am Flughafen von Journalisten und begeisterten Menschen begleitet worden. Ich konnte mit dem ganzen Rummel nichts anfangen und fühlte mich völlig fehl am Platz. Wer war ich schon und was hatte ich mit dieser Welt zu tun, ich, der jüngste Sohn eines einfachen Volksschullehrers und einer Bauerntochter? Das Ganze war mir zuwider und ich verachtete die Gräfin. Der noble Stolz und die selbstbewusste Eleganz dieser Frau, ihre penetrante Höflichkeit und die demonstrativ zur Schau getragene Bescheidenheit ihres Auftretens waren kaum zu ertragen.

Nie werde ich diese eine Nacht vergessen: Die Stille in einer kleinen Kapelle, das leise Flackern der Kerzen, den Geruch von Räucherstäbchen und plötzlich, wie aus dem Nichts, den Klang ihrer Stimme: sanft, kaum vernehmbar und doch bestimmt und klar:

„Sie mögen mich nicht, nicht wahr, Herr Vikar?“

Ich könnte nicht sagen, was mich mehr getroffen hat, der Schreck oder ihre Worte. Mit einem Satz hatte sie mein Innerstes entlarvt. Ich war wie erstarrt und brachte kein Wort heraus. Ja, ich mochte sie nicht. Ich hasste sie dafür, dass sie seit Tagen meine Gedanken besetzte, vom morgendlichen Erwachen an bis tief in meine schlaflosen Nächte. Ich konnte nicht mehr beten, ohne an sie zu denken: Wer bin ich für sie? Warum schaut sie mich an? Warum schaut sie mich nicht an? Was soll ich tun? Was werde ich auf keinen Fall tun?

Als ich endlich den Mut fand mich umzudrehen, war sie verschwunden. Nur ein leiser Hauch von Flieder zeugte davon, dass ich es mir nicht eingebildet hatte.

Dieser frühlingshafte Duft ihres Parfüms wird für mich immer verbunden bleiben mit dem feurigen Rot der untergehenden Sonnen… und mit dem verwirrenden Schmerz einer quälenden Frage, auf die ich wohl nie eine Antwort bekommen werde. Es war der letzte Abend vor unserer Heimreise. Wir waren alleine auf dem Hügel über der Missionsstation, die Gräfin und ich. Sie stand vor mir, den Rücken leicht gegen meine Brust gelehnt, und blickte nachdenklich über das Meer. Der Wind spielte munter mit den Ärmeln ihrer Jacke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte, und immer mal wieder strich eine Strähne ihrer Haare über meine Wange.

Ich wusste nicht, wie mir geschah. Seit jener Nacht in der Kapelle war die Gräfin wie verwandelt. Sie wich kaum mehr von meiner Seite, nahm mich mit zu alle ihren Terminen und fragte immer wieder nach meiner Meinung. Von einem Moment zum anderen schien ich plötzlich zu existieren für sie. Und dann das, diese plötzliche Nähe, diese ebenso verwirrende wie betörende Intimität, als sie sich wie selbstverständlich an mich lehnte. Ich war wie erstarrt unter meiner schwarzen Soutane. Noch nie hatte ich die Nähe einer Frau gespürt. Nicht so. Ich fühlte mich völlig hilflos. Meine Hände wollten etwas tun, sie berühren, halten. Aber wie? Wo?

Als das letzte Stück Sonne im Meer versunken war, drehte sie sich plötzlich um. Ihr Gesicht war direkt vor mir. Ich konnte den Hauch ihres Atems spüren, die leise Berührung ihres Busens an meiner Brust. Ihre Augen funkelten seltsam. Sehnend, zögernd, fragend? Doch plötzlich hatten sie diesen speziellen Glanz, der mich so an ihr fasziniert hat, diese selbstbewusste Entschlossenheit, wenn sie wusste, was sie wollte. Und bevor ich mich fragen konnte, was ich wollte, spürte ich ihre sanften Lippen auf meinem Mund.

Ich weiss nicht, wie lange dieser Moment gedauert hat. Aber auf jeden Fall lange genug, um mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Irgendwann mussten sich meine Hände bewegt haben. Ich erinnere mich an das Gefühl ihres Rückens unter der weichen Wolle des Twinsets, den Geruch ihres Halses, den Duft ihrer Haare und den Geschmack von süssem Wein an ihren Lippen. Und wenn ich die Augen öffnete, war da das feurige Rot, das die Sonne am Himmel hinterlassen hat. Und irgendwann war da auch plötzlich die Angst, dass man trotz des festen Stoffes der Soutane spüren könnte, was gerade mit mir geschah. Doch fast gleichzeitig mit dieser Angst ertönte unter uns die Glocke der Kapelle.

Als ob wir aus einem Traum erwachen würden, liessen wir voneinander ab und starrten uns an. Da war er wieder, dieser zögernde, fragend Ausdruck in ihren Augen. Ihr Atem ging schnell und ihre Wangen glühten mit dem Abendhimmel um die Wette. Ihre Lippen schienen etwas sagen zu wollen, begannen aber stattdessen zu zittern, während der Wind ihr die Haare ins Gesicht wehte. Ihre Schultern bebten unter der feinen Jacke des Twinsets und irgendwann senkten sich ihre Lider, als ob sie versuchte, sich zu sammeln.

Die Ohrfeige kam so völlig unvermittelt, als ob ein Blitz aus heiterem Himmel über mich hereinbrechen würde. Als ich schliesslich die Augen öffnete, sah ich gerade noch die wehenden Ärmel ihrer Strickjacke, während sie schluchzend zwischen den Büschen verschwand.

„Du hasst sie immer noch, nicht wahr?“, durchbrach die sanfte Stimme meines Besuchers endlich das leise Knistern des Feuers, nachdem wir die längste Zeit schweigend in die Flammen gestarrt und gelegentlich an unseren Gläsern genippt hatten. Es war nicht wirklich eine Frage, eher eine Feststellung. Und sie traf mich wie eine neue Ohrfeige. Wie kann er es wagen, ausgerechnet er? Wo er doch genau weiss, wie quälend die Liebe sein kann.

Er muss meine Irritation gespürt haben, diesen spontanen Anflug von Ärger. Doch sein Blick ruhte ruhig auf mir, wohlwollend, wissend, ohne einen Hauch von Vorwurf oder Spott. So etwa muss wohl Jesus die Samariterin angeschaut haben, damals am Jakobsbrunne: „Du hast die Wahrheit gesagt“.

Ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Und doch wusste ich, dass er Recht hatte. Hätte er mich gefragt, ob ich sie immer noch liebe, was hätte ich gesagt? Ja, natürlich, sie war und ist meine grosse Liebe, die einzige Liebe meines Lebens? Es wäre eine Lüge gewesen, so wie ich mich mein ganzes Leben belogen habe. Wie viel tausend Mal hatte ich als Priester Gottes über die Liebe gepredigt, die selbstlose, bedingungslose Liebe, bei der es nie um mich geht, sondern immer um den anderen, um sein Glück und sein Leben. Mein Gott, wie wenig hat dieses ganzes Predigen mit dem zu tun, was ich selber meine „grosse Liebe“ nenne!

Es gibt Momente im Leben, wo plötzlich der Hahn kräht und man nackt vor der eigenen Wahrheit steht. Und je älter und weiser ich zu sein meine, desto demütigender und schmerzhafter erscheinen mir diese Momente. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fuhr mir die Erinnerung in meine alten Glieder: der brennende Schmerz auf meiner Wange, die völlige Verwirrung und Fassungslosigkeit, die gekränkte Eitelkeit, die Wut und schliesslich der Hass, dieser unselige Mechanismus, der im Negativen vollzieht, was die Liebe im Positiven sucht: die radikale Hinwendung zum anderen.

Ja, ich habe die Gräfin gehasst. Ich hasste sie für das, was sie ist, und für das, was sie mit mir gemacht hat. Und irgendwie hasse ich sie wohl bis heute dafür, dass ich sie nicht loslassen kann. Dabei geht es doch schon lange nicht mehr um sie, sondern nur um mich und meine gekränkte Eitelkeit. Und da ich meinen Hass nicht loslassen will, habe ich mir eingebildet, es sei Liebe. Doch mit Liebe hatte das alles nichts zu tun. Ich hatte nie wirklich nach ihr gefragt, wer sie eigentlich ist und was sie bewegt. Ich wusste nichts von ihrer Hoffnung und Freude, ihrer Trauer und Angst. Sie war nie mehr als das Objekt meiner Begierde, die Verkörperung von dem, was ich nicht war und nie besitzen würde: Adel, Würde, Selbstbewusstsein, Schönheit und Eleganz. Ich wollte von ihr gesehen werden, angesehen und respektiert. Einen kurzen Moment lang hatte sie mir all das geschenkt. Ja viel mehr noch als das. Doch selbst da hatte ich mich nie gefragt, was sie dabei empfunden hat. Was ging in dem Moment in ihr vor, als sie mit glühenden Wangen und bebenden Schultern vor mir stand, bevor…?

Ich hatte sie seither nie mehr gesehen. Sie war damals am frühen Morgen abgereist. Und in all den Jahren hatte ich nie auch nur den geringsten Versuch unternommen, mich nach ihr zu erkundigen. Ich weiss nicht einmal, ob sie noch lebt.

„Angenommen, sie würde jetzt hier in meinem Sessel sitzen“, fragte mein priesterlicher Freund schliesslich, während er uns noch etwas Whisky nachschenkte, „was meinst du, würde sie dir heute sagen wollen?“

„Was für eine Frage!“, dachte ich, während ich den rauchigen Duft des Lagavulins in meine Nase steigen liess. Dabei erschienen vor meinem inneren Auge die freudig glänzenden Augen der „Petra“. Und plötzlich wurde mir bewusst, wie sehr ich meinen jungen Kollegen um diese Augen beneide.

Als er schliesslich gegen Mitternacht in seinen Mantel schlüpfte und sich anschickte zu gehen, holte ich aus der Schublade meines Schreibtisches das alte Bild von der Gräfin und mir. Es muss damals an unserem letzten Tag entstanden sein. Irgendjemand hatte es mir ein paar Monate später zugeschickt.

„Wirklich verblüffend, diese Ähnlichkeit!“, meinte mein Gast, während er das Bild nachdenklich betrachtete. „Hast Du es unserer jungen Nonne schon gezeigt?“

Natürlich nicht! Niemand wusste bis heute von diesem Bild, und niemand wusste von der Gräfin und von der steten Herausforderung, die der Duft von Flieder, Abendrot und die Erinnerung an ein paar süsse Lippen für mein priesterliches Leben darstellten.

Eine Woge der Dankbarkeit erfüllte mein Herz, als ich meinen jungen Freund und Vertrauten zum Abschied spontan umarmte. Doch als ich zusah, wie er durch den Garten davonging, spürte ich eine leise Enttäuschung in mir. Irgendwie schien er mir seit ein paar Minuten verändert zu sein, nachdenklich und fast etwas bedrückt. War es das eine Glas Whisky zuviel? Als er beim Gartentor ankam, drehte er sich plötzlich noch einmal um. Sein Gesicht wirkte müde und blass im Schein der Strassenlampe, sein Blick schien durch mich hindurchzugehen und seine gedämpfte Stimme war kaum zu hören: „Kommt es vor, in einsamen Stunden, dass du dich mit ihr… ich meine… du weisst schon?“

Ich weiss nicht, ob ich die Frage richtig verstanden habe.

Aber sie hat mir auf einen Schlag klar gemacht, dass ich noch lange nicht alles gebeichtet habe.

*******

„Sie ist wunderschön!“, meinte die junge Nonne, als sie das Bild der Gräfin betrachtete.

Ich hatte sie spontan zum Tee eingeladen, als sie heute Nachmittag vorbeigekommen war, um mir frisches Brot und Tee aus dem Klosterladen zu bringen. Und als ich sie so dasitzen sah, selbstbewusst und elegant, in ihrem schwarzen Ordensgewand und dem langen Schleier, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie in mein Geheimnis einzuweihen.

Wenn sie die verblüffende Ähnlichkeit bemerkt haben sollte, hat sie es sich nicht anmerken lassen. Geduldig hörte sie mir zu, während ihr aufmerksamer Blick immer wieder von mir zu dem Bild wanderte, das in ihrem Schoss lag. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte bis zur Ohrfeige. Und irgendwie hatte ich wohl gehofft, dass sie es begreifen würde, dass sie ahnen würde, dass es eigentlich auch um sie geht, und dass sie mich von sich aus fragen würde, warum ich ausgerechnet ihr all das anvertraue. Doch sie legte nur ruhig das Bild neben sich, schenkte uns beiden Tee nach und betrachtete mich erwartungsvoll über den Rand ihrer dampfenden Tasse hinweg. „Mein Gott, was machst Du mit mir!“ schoss es mir durch den Kopf, als ich dabei ihren abgespreizten kleinen Finger sah. Ich hatte in meinem Leben nur eine Frau getroffen, bei der ich das bewusst wahrgenommen habe.

„Ich kann die Gräfin gut verstehen“, unterbrach sie schliesslich doch das angespannte Schweigen, wobei sie wohl an meinem verdutzten Ausdruck erkannte, dass dieser Übergang nicht ganz meiner Erwartung entsprach. Sie meine natürlich nicht die Ohrfeige, um Himmels Willen, nein, entschuldigte sie sich sofort mit einem sanften Lächeln, wobei ihr das Missverständnis nicht wirklich peinlich zu sein schien. Nein, sie meine die Faszination, die von mir ausgehe. Dem Bild nach zu urteilen, sei ich ein stattlicher, attraktiver Mann gewesen, und die schwarze Soutane dürfte damals noch eine andere Ausstrahlung gehabt haben als heute. Auch sie selber sei spontan von meiner Persönlichkeit berührt gewesen, als sie mich zum ersten Mal im Gottesdienst erlebt habe. Ich hätte damals so leidenschaftlich über die bedingungslose Liebe Gottes gepredigt, die uns mit all unseren Grenzen und Verletzungen bejaht und uns in Jesus Christus leibhaftig begegnen möchte. Dabei hätte ich sie immer wieder auf eine besondere Weise angeschaut und plötzlich sei es ihr gewesen, als ob Jesus selber vor ihr stehe und sie einlade, mit ihm zu kommen auf den Weg der Wahrheit und des Lebens. Ja, Gott habe mich damals für sie zum Werkzeug gemacht für den letzten Schritt ihrer Entscheidung. Am gleichen Tag habe sie der Priorin gesagt, dass sie ins Kloster eintreten möchte.

Fassungslos starrte ich in ihr lächelndes Gesicht, das mich neugierig musterte. Ich konnte weder verstehen noch glauben, was mir da gerade wiederfuhr. Ich weiss nicht, was ich mir wirklich erhofft hatte, aber das nicht. Sie muss es gespürt habe, meine Verwirrung, meine Hilflosigkeit und meine völlige Überforderung durch Gefühle, mit denen ich gerade gar nicht umzugehen wusste. Doch das schien sie nur noch mehr anzustacheln.

Was sie an mir immer besonders geschätzt habe, sei meine Diskretion gewesen, hörte ich sie sagen, wobei ihr Gesicht einen ernsthaft eindringlichen Ausdruck angenommen hat. Sie habe meine dezidierte Zurückhaltung gespürt, als die Priorin sie mir damals nach der Messe vorgestellt habe. Das habe sie im ersten Moment zwar etwas irritiert. Doch gleichzeitig habe der Kontrast zur eindringlichen Kraft meiner Predigtworte den mystischen Charakter ihrer Erfahrung erst recht bestätigt. Natürlich habe sie sich in den letzten Jahren immer wieder gefragt, warum ich ihr gegenüber stets so kühl und reserviert auftreten würde. Doch umso mehr freue sie sich jedes Mal, wenn ich mit den Schwestern Gottesdienst feiere. Dann sei ich ganz da, mit Leib, Seele und Herz, erfüllt von dem was ich tue und was ich sage.

Diese Spannung habe sie schätzen gelernt und sie möchte mir dafür danken, sagte sie nun wieder mit einem sanften, fast etwas mitleidigen Lächeln auf den Lippen. Sie spüre darin auch eine grosse Freiheit. Aber sie könne auch verstehen, dass es nicht für jedermann leicht sei, damit umzugehen. Sie könnte sich gut vorstellen, dass es für die junge Gräfin damals schwierig gewesen sein muss, ihre Faszination für mich als Mann mit der gebührenden Ehrfurcht vor mir als Priester zu versöhnen. Und das Priesterseminar habe mich wohl kaum auf die Begegnung mit den verwirrenden Ambivalenzen eines weiblichen Herzens vorbereitet.

Mein Gott, wie recht sie hat, dachte ich mir, als ich wenig später hinter der Gardine zuschaute, wie sie mit einem fröhlichen Winken und wehendem Schleier eilig dem Ruf der Vesperglocke folgte. Und wenn ich daran denke, was mir eben widerfahren ist, scheinen auch 60 Jahre priesterlichen und seelsorgerlichen Dienstes wenig an meiner Herzensbildung geändert zu haben.

Warum hatte ich sie eingeladen? Was hatte ich mir von ihr erhofft? Wollte ich wirklich diese junge, unschuldige Seele mit all dem Unerlösten meines Lebens belasten, ja ihr am Ende gar noch meine geheimsten Fantasien „beichten“, und all das in der geheimen Erwartung, dass die „Gräfin“ mich verstehen würde und mir verzeihe, so wie Priorin „Petra“ meinem lieben Mitbruder?

Dabei ist doch gerade das das Unverzeihliche: Dass es mir in allem immer noch nur um mich geht.

Einmal mehr höre ich diesen Hahn krähen.
Und einmal mehr habe ich nicht den Mut, Dir Jesus in die Augen zu schauen.

Und doch hast DU ausgerechnet mich, Deinen armseligen Knecht, für die junge „Gräfin“ zum Werkzeug Deiner Gnade gemacht.

„Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen,
zu hoch, ich kann es nicht begreifen.“
Psalm 139,6

Bild: Humphrey Bogart und Gene Tierney in The Left Hand of God (1955)

Warum sie? XXVI (der Bariton)

(aus dem Tagebuch eines Sängers über Schuberts Winterreise und verlorene Liebe)

Samstag, 1. Januar

Mein Gott, was für eine Stimme!

Diese Leichtigkeit und Klarheit, diese Wärme und Intensität!

Das kann doch einfach nicht sein! Und doch, ich würde sie auch heute noch unter Tausenden wiedererkennen. Stundenlang hatte ich ihr damals beim Üben zugehört. Es war die Stimme meines Lebens. Die Stimme meiner Liebe. SIE war einzigartig.

Doch SIE ist tot. Seit fünfzehn Jahren schon.

Wer also hat da gesungen, heute Morgen in der Klosterkirche, ausgerechnet diese Bachkantate, und ausgerechnet an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal seit Jahren wieder meine Eltern zum Gottesdienst begleitet habe?

Seitdem ich vor acht Jahren geheiratet hatte, war ich an den Festtagen nie mehr zuhause gewesen. Entweder hatte ich irgendwo gesungen oder wir waren im Ferienhaus meiner Schwiegereltern in den Bergen. Ich hatte unsere alte Klosterkirche nie besonders gemocht. Als Kind kam sie mir düster und bedrückend vor, und der Weihrauch, den die Nonnen so lieben, tut meiner Stimme nicht gut.

Entsprechend lustlos sass ich heute Morgen zwischen meinen Eltern in der Kirchenbank und haderte mit meinem Schicksal. Doch dann ertönte aus dem dunklen Gewölbe über uns diese Stimme: „Jauchzet Gott in allen Landen!“ Der Schock fuhr mir durch Mark und Bein. Wie gelähmt sass ich da und kämpfte verzweifelt gegen die Tränen. Irgendwann spürte ich, wie die behandschuhten Finger meiner Mutter sanft meine Hand umschlossen. Ich wagte nicht, sie anzuschauen. 

Von unserem Platz aus konnten wir die Sängerin auf der Empore nicht sehen. Erst als das letzte „Halleluja“ verklungen war und die Leute zu applaudieren begannen, eilte ich nach vorne. Aber ich kam zu spät. Nur das Gesicht der Priorin schaute noch kurz über die Balustrade. Meine Mutter meinte, sie hätte die Orgel gespielt.

Als ich nach dem Mittagessen im Kloster angerufen habe, konnte mir die alte Schwester an der Pforte auch nicht weiterhelfen. Ja, da sei eine junge Frau als Gast gewesen. Schön habe sie gesungen, nicht wahr? Und nein, sie wissen nicht, wie sie heisse. Die Dame sei vor einer Stunde abgereist.

Den halben Nachmittag habe ich mich wie besessen durch das Internet gegoogelt: Nur zwei Sopranistinnen haben in den letzten Monaten diese fabelhafte Bachkantate in Konzerten gesungen. Sollte tatsächlich eine dieser beiden heute Morgen… ausgerechnet bei uns…  doch wenn ja, welche?

Die eine, die mit dem italienischen Namen, ist noch jung, 28 Jahre. Sie hatte in Basel studiert und vor einem Monat in einem grossen Konzert gesungen. Die Kritiken waren gut aber nicht überschwänglich, was irgendwie auch ihrer Erscheinung entspricht. Sie ist ganz hübsch mit ihren dunklen Haaren, aber ihre zierliche Gestalt passt einfach nicht zu dieser Stimme. Und die wenigen Aufnahmen auf ihrem YouTube-Kanal auch nicht wirklich.

Ganz anders die zweite Kandidatin, eine gebürtige Tschechin, 40 Jahre alt, eine stattliche Dame mit vollem, dunkelblondem Haar. Sie hat die Figur meiner Frau, vielleicht noch etwas kräftiger. Ihr YouTube-Kanal ist voll mit tollen Aufnahmen, aber fast alles Opern. Schwierig zu sagen, wie ihre Stimme bei Bach tönen würde.

Doch dann stiess ich auf ihre Interpretation der Winterreise von Schubert. Dreimal habe ich sie mir heute schon angehört. Ich hätte nie gedacht, dass mich neben der Fassbaender je eine andere Sängerin mit diesem Leidensgesang eines jungen Mannes berühren könnte.   

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen, mit manchem Blumenstrauss.
Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh‘
nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee.

Mein Gott, was macht diese Musik mit mir? Sie bringt wie keine andere meinen Schmerz und meine Sehnsucht zum Ausdruck. Doch je mehr ich mich damit beschäftige, je mehr ich in die Welt und Stimmung dieser Lieder eintauche, desto mehr scheint mich dieses magische Werk selber in diese Trauer, Verzweiflung und Verlassenheit zu treiben.

Wie tröstlich ist da die Vorstellung, dass die gleiche Stimme heute Morgen mit ihrem freudig jubilierenden Halleluja wieder etwas Licht und Wärme in die Nacht meiner Seele gebracht hat… auch wenn mich die Faszination dieses Lichtes einmalmehr um den Schlaf zu bringen droht. 

Ein Licht tanzt freundlich vor mir her;
ich folg‘ ihm nach die Kreuz und Quer;
ich folg‘ ihm gern, und seh’s ihm an,
dass es verlockt den Wandersmann.

Ach, wer wie ich so elend ist.
gibt gern sich hin der bunten List,
die hinter Eis und Nacht und Graus
ihm weist ein helles, warmes Haus,
und eine liebe Seele drin –
nur Täuschung ist für mich Gewinn.


Sonntag, 2. Januar

Ich hatte kaum geschlafen und sass halb tot vor meinem Frühstück, als meine Mutter voller Begeisterung aus der Messe im Kloster zurückkam: Wir hätten heute Nachmittag einen Gast. Die junge Schwester komme zu Kaffee und Kuchen, ich wisse schon, die Bankerin, von der sie mir erzählt habe.

Ich konnte förmlich spüren, wie mir das Adrenalin ins Blut schoss. Nicht dass mir diese Nonne irgendetwas bedeutet hätte. Ich kannte sie kaum. Sie muss ins Kloster eingetreten sein, nachdem ich weggezogen war. Nur einmal war ich ihr kurz begegnet. Sie war ganz nett, aber nicht mein Typ. Doch die Hoffnung, von ihr etwas mehr über meine mysteriöse Sopranistin zu erfahren, versetzte auch mich in einen Zustand fiebriger Erwartung.  

Von der Strasse her ein Posthorn klingt.
Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz?

Meine Mutter war wieder einmal ganz in ihrem Element. Sie liebt es über alles, Gäste zu verwöhnen, und hatte uns noch schnell einen Kuchen gebacken. Das elegante Kleid, das sie trug, hatte ich noch nie an ihr gesehen. Es steht ihr ausgezeichnet und schmeichelt ihrer Figur. Sie muss es gekauft haben, nachdem sie bei ihrer Pensionierung vor drei Jahren den ersten Achtsamkeitskurs bei der jungen Nonnen besucht hatte. Sie hat damals mit Rauchen aufgehört und dafür begonnen, täglich Shibashi zu machen. Ich wunderte mich schon etwas, wie gelassen sie auf einmal die zusätzlichen Kilos in Kauf nahm, aber noch mehr staunte ich über die harmonische Eleganz ihrer Bewegungen, als ich ihr heute Morgen bei ihren Übungen zusah.

Sie hegte eine fast schon peinliche Verehrung für ihre junge „Lehrerin“ und wusste dies nur mit Mühe zu verbergen, als wir heute Nachmittag mit unserem Gast vor dem brennenden Kaminfeuer sassen. Es sei so schön, dass es nun endlich einmal geklappt habe mit einem Besuch, eröffnete sie das Gespräch, nachdem sie uns mit Kaffee und Kuchen versorgt hatte. Wir seien ja so was von begeistert gewesen von dem gestrigen Gottesdienst. Wie denn dieser Priester noch mal heisse? Sie habe schon zu ihrem Mann gesagt, so eine Predigt hätten wir seit Jahren nicht mehr gehört. Und wie wunderbar die Nonnen immer wieder singen würden. Wie habe der alte Dorfpfarrer immer so schön gesagt: Eine gesunde Gemeinschaft erkenne man an ihrem Gesang. Und dann das Sahnehäubchen: diese fabelhafte Bachkantate. Was für eine Stimme! Sie sei im Tiefsten ihres Herzen berührt worden, und auch ihr Sohn habe heimlich ein paar Tränen vergossen, nicht wahr? Und natürlich hätten wir uns alle gefragt, wer denn da…

Die junge Nonne in ihrem schwarzen Gewand liess all das mit einem geduldigen Lächeln über sich ergehen, während sie ihre Finger an der Kaffeetasse wärmte und mich dabei immer wieder nachdenklich musterte. So sehr sich meine Mutter auch bemühte, mir war schnell klar, dass ich auf meine Frage keine Antwort bekommen würde. Irgendwann hat dann mein Vater das Zepter übernommen und sich bei der ehemaligen Bankerin nach ihrer Einschätzung der Entwicklung der internationalen Finanzmärkte erkundigt.

Die Post bringt keinen Brief für dich:
Was drängst du denn so wunderlich, mein Herz, mein Herz?

Als sich unser Gast schliesslich anschickte aufzubrechen, war es draussen schon dunkel. Sie müsse selbstverständlich nicht alleine im Finstern nach Hause gehen, meinte meine Mutter, während ich der Nonne in ihren schwarzen Daunenmantel half. Ich würde sie natürlich begleiten. Man wisse ja nie, was sich da heutzutage so alles herumtreibt.

Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt‘ in seinem Schatten so manchen süssen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort;
es zog in Freud und Leide zu ihm mich immerfort.

Ich musst‘ auch heute wandern vorbei in tiefer Nacht,
da hab ich noch im Dunkeln die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu:
komm her zu mir, Geselle, hier findst du deine Ruh‘!

Wie oft war ich damals diesen Weg gegangen, wenn ich SIE abends noch zurück in die Stadt begleitet habe. Er führt vorbei an dem Baum, unter dem wir uns zum ersten Mal geküsst hatten. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es tatsächlich eine Linde ist, aber ich weiss genau, was ich damals in die Rinde geritzt habe. Und ich war dankbar, dass es heute dunkel war und ich es nicht sehen musste.

Die Sterne funkelten durch die nackten Zweige der Bäume, als wir dem Fluss entlang Richtung Kloster marschierten. Die dunkle Gestalt schritt schweigend neben mir her, während ich leise den Anfang des „Lindenbaums“ sang. Ob sie Schubert kenne, fragte ich sie schliesslich, die Winterreise? Ein unheimliches Stück, ja fast schon mystisch. Wie dieser junge Mann Sehnsucht und Schmerz in Musik verwandelt habe, einfach sagenhaft!

Und dann erzählte ich ihr von der Stimme von gestern, einer Stimme, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: Die Stimme meiner Jugend und meiner ersten grossen Liebe. Wir waren schon im Kindergarten unzertrennlich. SIE half mir immer bei den Hausaufgaben und meine Mutter liebte SIE wie ihre eigene Tochter. Später waren wir zusammen auf der Musikakademie. Ich war gut, sehr gut sogar, aber SIE war besser. Ich hatte hervorragende Lehrer, aber das Wichtigste hatte ich von ihr gelernt: Die Liebe. Mein Gott, wie glücklich wir waren! Sobald wir unsere Diplome hätten, wollten wir heiraten.

Ich hatte mich damals in meinem jugendlichen Übermut zum ersten Mal an die Winterreise gewagt. Nie werde ich ihren Blick vergessen, als SIE mich beim Üben ertappte und mir kurzerhand die Noten weggenommen hat. Ich sei zu jung für dieses Werk, entweder ich verstehe es nicht oder es mache mich kaputt.

Ein halbes Jahr später hatte sie gleich selber dafür gesorgt, dass ich es verstehen werde. Ich war für eine Konzertreihe im Ausland, als ich die Nachricht bekam. Eine Joggerin hatte SIE am frühen Morgen im See gefunden. Ein Fremdverschulden war auszuschliessen. Ihre Kleider lagen säuberlich zusammengelegt am Ufer. In ihrem Blut fand man eine erhöhte Dosis des Medikamentes, dass sie gegen ihre Depressionen nahm. Doch einen Abschiedsbrief gab es nicht. Ihre beste Freundin war überzeugt, dass SIE es wollte. Ich will es nicht glauben.

Jahrelang hatte ich es nicht gewagt, die Winterreise wieder anzurühren. Dann vor einem Jahr kam mein Agent mit dem Projekt, diesen Liederzyklus aufzunehmen. Seither begleitet mich dieses Werk Tag und Nacht. Ich habe ihm alles geopfert und – mein Gott – wenn einer es heute verstehen kann, wer dann, wenn nicht ich!

Ob sie sich vorstellen könne, wie ich mich fühle, fragte ich die dunkle Gestalt neben mir, als wir schliesslich in die Klostergasse einbogen. Da versuche man verzweifelt, zu verzeihen und zu vergessen, und dann ertönt da mitten in den Schmerz und die Einsamkeit hinein diese Stimme. Ihre Stimme! SIE hatte diese Kantate bei ihrem Masterrezital singen wollen.

Die Erinnerung und der Schmerz hatten mir schliesslich die Sprache verschlagen, während wir langsam auf das Kloster zugingen. Und plötzlich meinte ich, es neben mir leise singen zu hören:

Nun bin ich manche Stunde entfernt von diesem Ort,
und immer hör‘ ich’s rauschen: du fändest Ruhe dort,
du fändest Ruhe dort.

Mein Gott, ich bin doch nicht verrückt! Sollte diese Nonne tatsächlich…? Aber nein, das kann einfach nicht sein! Warum sollte jemand wie sie den „Lindenbaum“ kennen. Ich muss mir das eingebildet haben. Vergeblich versuchte ich, ihren Blick zu deuten, als wir schliesslich an der Pforte unter der Laterne standen. Aber ihre Augen lagen im Schatten der Kapuze ihres Mantels, die sie sich tief in die Stirn gezogen hatte. Das feine Leder ihres Handschuhs fühlte sich kalt an, als sie mir zum Abschied die Hand gab.

Sie hatte die Tür bereits aufgeschlossen, da drehte sie sich plötzlich noch einmal um:

Wie es eigentlich meinem Sohn gehe? Der Kleine müsse doch sicher schon bald in die Schule kommen.

Bevor ich auch nur begriffen hatte, was sie sagte, war die Tür bereits hinter ihr ins Schloss gefallen.


Montag, 3. Januar, 13 Uhr

Die Worte der Nonne hatten mich wie eine Ohrfeige getroffen. Der brennende Schmerz wollte einfach nicht nachlassen, und als ich endlich doch eingeschlafen bin, haben sie mich noch im Traum verfolgt.

Die Sonne schien bereits durch meine Vorhänge, als ich mich endlich aus dem Bett wälzte. Der Frühstückstisch war noch gedeckt für mich, aber das Ei und der Kaffee waren kalt. Auf meinem Teller lag ein Zettel meiner Mutter: Vater hätte seinen Golf Tag und sie sei in die Stadt gefahren. Das Mittagessen ist im Kühlschrank.

Ich hatte mir in der Nacht fest vorgenommen, meine Frau anzurufen und mit meinem Jungen zu sprechen. Doch bevor ich mich dazu aufraffen konnte, läutete mein Telefon. Es war mein Agent. Wie lange ich noch brauche? Unser Pianist habe nur noch bis Ende Januar Zeit. Wenn ich bis in zwei Wochen nicht im Studio sei, könne ich die Winterreise vergessen.

Ich such’ im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur,
wo sie an meinem Arme durchstrich die grüne Flur.
Ich will den Boden küssen, durchdringen Eis und Schnee
mit meinen heissen Tränen, bis ich die Erde seh’.

Es geht nicht! Es geht einfach nicht. Seit drei Stunden sitze ich nun am Flügel im Salon meiner Eltern und versuchte, meine Stimme und meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Mein Gott, wenn es draussen wenigsten Eis und Schnee gehabt hätte, dann hätten die Tränen meiner Verzweiflung etwas zum Schmelzen gehabt. Aber da war überall nur dieses entsetzliche Grau. Und weit und breit niemand, an dessen Arm ich die grüne Flur durchstreichen könnte.

Sie halte das nicht mehr aus, hatte meine Frau gesagt, an diesem Sonntag vor drei Monaten, nachdem sie einmal mehr alleine mit dem Jungen zu ihren Eltern musste. Ich sei im Begriff, alles kaputt zu machen, unsere Ehe, unsere Familie und vor allem mich selber. Sie könne und wolle das nicht länger mitanschauen. Entweder ich ziehe aus, oder sie gehe mit dem Jungen, jetzt sofort! Eine Stunde später sass ich in einem Taxi zum Bahnhof.

Der Schock sass tief und um mich davon abzulenken, hatte ich mich nur noch mehr in die Winterreise gestürzt. Stundenlang hatte ich mir alle möglichen Einspielungen angehört und fieberhaft nach meinem ureigenen Ausdruck des Schmerzes gesucht.

Wo find’ ich eine Blüte, wo find’ ich grünes Gras?
Die Blumen sind erstorben der Rasen sieht so blass.

Ja, sie sind erstorben, meine Blumen. Alle, die ich liebe, haben mich verlassen. Wann wenn nicht jetzt könnte ich die Winterreise verstehen? Wann wenn nicht jetzt sollte ich diesem Werk meine Stimme leihen?

Soll denn kein Angedenken ich nehmen mit von hier?
Wenn meine Schmerzen schweigen, wer sagt mir dann von ihr?

Ich kann SIE nicht vergessen. Und ich will SIE nicht vergessen. Wie sollte ich meine Liebe vergessen wollen. Nein, nie! Und wenn es um den Preis des ewigen Schmerzes ist.

Auch wenn Du mich noch tausendmal verlässt, ich verlasse Dich nie!


Montag, 3. Januar, 23 Uhr

Mein Herz ist wie erfroren, kalt starrt ihr Bild darin:
Schmilzt je das Herz mir wieder, fliesst auch das Bild dahin.

„Ja, wenn es doch nur endlich schmelzen würde!“

Wie aus dem Nichts ertönte die Stimme meiner Mutter hinter mir, nachdem ich mich am Flügel sitzend zum x-ten Mal an diesem Nachmittag durch die „Erstarrung“ gekämpft hatte. Ich hatte sie nicht kommen hören und erst als sich ihre Hände auf meine Schultern legten und begannen, sanft meinen Nacken zu massieren, witterte ich den vertrauten Duft ihres Parfüms.  

Meine Frau lasse mich grüssen, sagte sie mit diesem leisen Unterton in der Stimme, den ich nur zu gut kannte. Warum ich den Kleinen nicht wenigstens zum Neujahr einmal angerufen habe?

Ich ahnte, dass meine Mutter sich regelmässig mit ihrer Schwiegertochter traf, aber sie hatte mir bisher nie davon erzählt. Die beiden mochten sich von Anfang an und irgendwie hatte es mich immer irritiert, wie scheinbar mühelos meine Mutter die Neue in ihr Herz geschlossen hat, grad so, als ob es ihre erste „Tochter“ nie gegeben hätte. 

Meine Stimme sei so hart und kalt wie das Phantom, dem ich hinterhertrauere, hörte ich sie sagen, nachdem sie ans Fenster getreten war und mit dem Rücken zu mir der untergegangenen Sonne nachschaute. Fassungslos starrte ich auf ihre aufrechte Gestalt, die sich gegen das Abendrot abzeichnete. Sie trug einen weiten, schwarzen Faltenrock über ihren eleganten Stiefeln und hatte sich den weissen Mohair-Strickmantel um die Schultern gelegt, den meine Frau für sie gestrickt hat.

Als ich mich schliesslich aus meiner Starre erhob, um zu protestieren, drehte sie sich um und schaute mir direkt in die Augen: Ob ich es denn wirklich nicht merke? Ob ich wirklich nicht sehe, wie sich meine Liebe in Hass verwandelt habe? Hass auf meine Liebsten, die mich verlassen haben. Und Hass auf mich selber, weil ich verlassen wurde. Der Hass habe mein Herz eingefroren, und mit ihm ein kaltes, erstarrtes Bild von IHR. Ja, wenn mein Herz erst schmelzen würde, könnte auch endlich ihr Bild dahinfliessen. Aber genau das wolle ich einfach nicht zulassen, weil dieses Bild doch schon lange nicht mehr SIE sei, sondern nur noch der willkommene Grund für meine verletzte Eigenliebe. Eigentlich drehe sich doch alles nur noch um mich, meine Einsamkeit, meine Kränkung und mein Selbstmitleid. Ob ich wirklich vergessen habe, was SIE mir damals gesagt hat? Ob ich wirklich nicht merke, wie sehr mich das alles kaputt mache?

Ich habe meine Mutter noch nie so erlebt: so eindringlich, fast flehend, und dabei so unglaublich entschlossen und stark. Sprachlos standen wir uns gegenüber. Erst als sich eine Träne aus ihren Augen löste, wandte sie sich abrupt wieder um. Ich sah, wie ihre Schultern bebten unter der flauschigen Wolle des Strickmantels, während ich selber verzweifelt versuchte, ihre Worte zu verdauen.

Draussen war es langsam dunkel geworden. Nur die Lampe beim Flügel gab uns etwas Licht und warf meinen Schatten auf den weissen Rücken meiner Mutter. Sie schien mir plötzlich etwas gebeugt. Irgendwann holte sie ein Taschentuch aus dem Ärmel, wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich die Nase. Ich konnte sie atmen hören, ruhig, tief, kontrolliert, so wie sie es von der jungen Schwester gelernt hat. Dann, nach einem besonders tiefen Atemzug, richtete sie sich auf, und wie aus der Dunkelheit heraus durchbrach ihre Stimme das quälende Schweigen, ruhig, kaum vernehmbar, und doch klar und bestimmt: „Ich möchte, dass du gehst, noch heute Abend!“

Eine Stunde später packte ich meine Koffer ins Taxi. Meine Mutter stand auf der Treppe vor dem Haus, den warmen Strickmantel fest vor der Brust zusammengezogen. Im Schein der Lampe glaubte ich Tränen auf ihren Wangen funkeln zu sehen. Und als der Wagen anfuhr und ich mich noch einmal umdrehte, stand mein Vater hinter ihr. Ich winkte ihm kurz zu, doch seine kräftigen Arme hielten meine Mutter fest umschlossen.


Dienstag, 4. Januar

Zum ersten Mal seit Wochen sitze ich beim Frühstück in meinem kleinen Studio in der Stadt, eingehüllt in die edle Alpaka-Strickjacke, die mir meine Frau zum 40. Geburtstag geschenkt hat. Seit drei Monaten hatte ich sie nicht mehr getragen.

Ich habe erstaunlich gut geschlafen, nachdem ich mir bis tief in die Nacht den ganzen Schmerz aus der Seele geweint hatte. Dabei habe ich auch von der jungen Nonne geträumt. Diesmal hatte sie ihre Kapuze zurückgeschoben und ich konnte ihre Augen sehen. Sie lächelten.

Meine Hand zitterte leicht, als ich schliesslich die Nummer meiner Frau wählte. Sie klang etwas überrascht aber nicht unwillig. Dem Kleinen gehe es gut, aber nein, er wolle nicht mit seinem Vater reden, hörte ich sie sagen, nachdem ich mitbekommen hatte, wie sie im Hintergrund miteinander tuschelten. « Lass ihm einfach etwas Zeit! »

« Und du? »

« Das weisst du doch, oder? »

« Ja, ich weiss, lass mir etwas Zeit! »

Nach dem dritten Kaffee fühlte ich mich endlich stark genug, meinen Agenten anzurufen. Er schien nicht wirklich überrascht. Dafür hatte er ein neues Angebot für mich: Die Matthäus-Passion von Bach, drei Aufführungen in der Karwoche. Ein junges aber engagiertes Team, das nach einem erfahrenen Evangelisten suche. Er schicke mir die Liste mit den Namen der anderen Solisten.

Der Name der ersten Sopranistin kam mir bekannt vor. Und tatsächlich, es ist die junge Italienerin, auf die ich an Neujahr gestossen war. Sie hat ein neues Profilbild. Das schwarze Kleid steht ihr ausgezeichnet. Ich stehe zwar nicht auf diesen schlanken, südländischen Typ, aber irgendwie erinnert sie mich doch an meine Frau: dieser selbstbewusste und doch so angenehm unaufdringliche, ja fast scheue Blick, und ihre Weise, die schwarze Strickjacke elegant um die Schultern drapiert zu tragen, diese eigentümliche Mischung aus Verletzlichkeit und Souveränität, die mich immer so an ihr fasziniert hat.

An Arbeit war in meinem Zustand heute definitiv nicht zu denken. Und so nahm ich meinen warmen Wintermantel und ging zum ersten Mal seit Monaten einfach so für ein paar Stunden hinaus an die frische Luft. Ich hatte mir eben eine Mass Bier und eine Schweinshaxe bestellt, in einem kleinen Biergarten, draussen an der wärmenden Sonne, als die Nachricht meiner Mutter kam:

„Du hast Deine Noten auf dem Flügel vergessen.
Ich habe sie zu mir genommen.“

Und da ich im Status sah, dass sie am Schreiben war, wartete ich gespannt. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Nachricht erschien:

„Ich habe Dich belogen!
Deine Stimme war nie hart und kalt.
Ganz im Gegenteil.
Es tut mir leid. Bitte verzeih mir.
In Liebe, Deine Mutter“

Ich brauchte eine Stunde, um ihr zu antworten:

„Lass mir etwas Zeit!“

Und seit einer weiteren Stunde starre ich immer wieder auf dieses eine Wort, das ich ihr noch schicken wollte:

„Danke!“


Zitate aus der Winterreise, op. 89, D 911 von Franz Schubert (1797-1828), Text von Wilhelm Müller (1794-1827)
Originalbild von proidee.de

Warum sie? XXV (die Sopranistin)

(aus dem Tagebuch einer Tochter auf dem Weg zur Emanzipation)

28. Dezember

„Mia Carissima, auf was hast Du Dich da eingelassen!“

Ich wusste, dass meine Mutter so reagieren würde. Warum musste ich es ihr auch sagen? Ich hatte mir doch fest vorgenommen… Andererseits, warum auch nicht. Ich habe keine Geheimnisse vor ihr. Ich bin doch kein Kind mehr.

Und schliesslich, was ist schon so schlimm daran? Ich verbringe ein paar Tage im Kloster, einfach so, für mich. Mehr ist doch nicht dabei. Ich brauche einfach etwas Ruhe und Distanz zu allem.

Aber warum ausgerechnet in einem Kloster? Die Frage habe ich mir schon auch gestellt, als ich heute aus dem Zug gestiegen bin und nach einer schwarzen Gestalt Ausschau gehalten habe. Ich würde abgeholt werden, hatte man mir am Telefon gesagt. Und tatsächlich, da stand sie, inmitten der bewegten Menge, in einem langen Steppmantel und einem schwarzen Schleier, der ihr bis zu den Hüften reichte. Sie hatte mir den Rücken zugedreht und schaute in Richtung der Wagen zweiter Klasse. In dem Moment war es mir plötzlich peinlich, dass meine Mutter mir eine Jahreskarte für die erste Klasse bezahlt. Als professionelle Sängerin müsse ich mich schützen vor zu vielen Menschen, Viren und Bakterien.

Ich zögerte und wusste nicht, wie ich die Nonne ansprechen sollte, als sie sich unvermittelt umdrehte und mich ebenso verdutzt anschaute wie ich sie. Die Frau ist jung. Kaum älter als ich. Ihre Wangen strahlten rosig und ihr Händedruck war warm und fest. Ob ich eine gute Reise gehabt hätte und ob sie mir den Koffer abnehmen dürfe, hörte ich ihre klare Stimme, während ich fasziniert zusah, wie ihre schlanken Finger wieder in einen eleganten, langschäftigen Handschuh schlüpften. Edles Nappaleder, italienische Qualitätsarbeit, fuhr es mir durch den Kopf, während sie mir den Rollkoffer abnahm und mich in Richtung Ausgang führte.

Sie würden nicht ihr gehören, hörte ich sie sagen, als wir wenig später im Auto sassen. Es sei eine Leihgabe einer italienischen … Freundin, meinte sie mit einem verschmitzten Lächeln. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie von den Handschuhen sprach. Falls ich versucht gewesen war, mir etwas auf meine Beobachtungsgabe einzubilden, hat sie mich um Längen geschlagen. Die Frau ist mir unheimlich. Und dieses leise Zögern im Satz. Was braucht es wohl, um von dieser Frau als „Freundin“ geadelt zu werden?

29. Dezember

Ich hatte den halben Tag verschlafen, bis ich ihr nach der Siesta im Besuchszimmer gegenübersass. Der Raum hatte etwas Bedrückendes mit seinen alten Polstermöbeln, dem frommen Krimskrams, der tickenden Wanduhr und dem süsslichen Duft von Möbelpolitur. Instinktiv rückte ich tiefer in meine Sofaecke und kuschelte mich in meine Daunenjacke. Mir war kalt, schon seit dem Aufstehen. Dabei könnte ich nicht behaupten, die Nonnen würden beim Heizen sparen.

Ob ich alles hätte, was ich bräuchte, fragte mich die jungen Schwester, die mir in einem Sessel gegenüber sass und mich über die dampfende Teetasse hinweg musterte. Die Art, wie sie dabei den kleinen Finger abgespreizt hielt, überraschte mich nicht wirklich, nachdem ich gestern Nacht noch intensiv nach ihr gegoogelt hatte. Die Frau hat definitiv Klasse. Sie würde meiner Mutter gefallen.

Ich wisse nicht genau, warum ich eigentlich hier sei, begann ich schliesslich zu reden, nachdem sie mich eine Weile lang erwartungsvoll angeschaut hatte. Ich sei Sängerin und hätte eine strenge Zeit hinter mir. Ich erzählte ihr von den Adventskonzerten, den feierlichen Gottesdiensten, vom Weihnachtsoratorium und der Solokantate von Bach, dem Höhepunkt meines Jahres. Dabei sei ich eigentlich überhaupt nicht religiös. Ich könne mit diesen alten Geschichten und Vorstellungen gar nichts anfangen. Ich habe mich immer nur für die Musik interessiert.

Doch gerade in diesen Weihnachtstagen bin ich immer mal wieder an einzelnen Texten hängengeblieben. Und als ich in der Christmette während der Kommunion eine Arie gesungen habe, sah ich in die Gesichter der Menschen, die dem Priester ihre Hände hingehalten haben, um dieses heilige Brot zu empfangen. Und plötzlich fragte ich mich, warum sie das tun? Was für eine Sehnsucht treibt sie an? Und was hat einen Johann Sebastian Bach dazu gebracht, zu solchen Texten seine unglaubliche Musik zu schaffen?

Vielleicht bin ich einfach gekommen, um zu verstehen. Irgendwie habe ich gespürt, dass das jetzt ansteht, als ich nach Weihnachten erschöpft und alleine in meiner Wohnung sass. Aber nein, natürlich bin ich nicht hier, um mich bekehren zu lassen. Dafür ist das Ganze einfach zu absurd. Oder ob sie denn wirklich glaube an dieses Märchen vom Kind in der Krippe? Wo doch selbst Theologen heute sagen, dass es eine Legende sei, ein erfundener Mythos, wie schon die ganze Geschichte von Moses im Alten Testament. Und könne sie denn wirklich glauben und von ganzem Herzen bekennen – bei all dem Schrecklichen, was in der Welt geschieht, gerade auch im Namen eines allmächtigen Gottes – „dass er uns in Kreuz und Not allezeit hat beigestanden“?

Sie hat mir keine Antwort gegeben. Kein Wunder, meinte meine Mutter, was hätte sie mir schon sagen sollen. Dafür hatte sie sich noch die Zeit genommen, mich durch das Kloster zu führen. Mir war nicht bewusst gewesen, dass man mir eines der schönsten Zimmer im privaten Bereich gegeben hatten, in der Klausur, wie sie es nennen. Schliesslich hat sie mir auch gezeigt, wo ich ihre Zelle finde. Ich könne jederzeit bei ihr klopfen, wenn ich etwas brauche. Und ob ich morgen Lust auf einen Spaziergang hätte? Am Nachmittag sei sie besetzt, aber abends wäre dann auch die Priorin wieder da. Ansonsten solle ich mich völlig frei fühlen.

Das tat ich dann auch. Nach dem Nachtessen ging ich noch etwas an die frische Luft. Der milde Westwind war viel zu warm für diese Zeit, tat mir aber gut, als ich in meine Jacke verpackt auf einer Bank sass und den Sternenhimmel betrachtete. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich zum letzten Mal so entspannt, ruhig und frei gefühlt hatte.

Dann hörte ich den Glockenschlag der Klosterkirche, der mich daran erinnerte, dass ich meine Mutter anrufen musste.

30. Dezember

Ich hatte wieder bis neun Uhr geschlafen und war noch beim Frühstück, als die junge Schwester bereits mit dem Mantel über dem Arm auftauchte. Und kurz darauf spazierten wir schweigend dem Fluss entlang, während die winterliche Sonne uns durch die nackten Zweige der Bäume entgegenstrahlte. Ausser einem gelegentlichen Hund und seinem Herrchen waren wir alleine und selbst das Rauschen des nahen Städtchens trat allmählich hinter dem leisen Geräusch unserer Schritte zurück.

Ich hätte natürlich Recht, durchbrach sie schliesslich die Stille, als wir auf einer Brücke standen und das Wasser betrachteten, das lautlos unter uns vorbeiströmte. Auch sie glaube nicht wirklich an die Weihnachtsgeschichte, so wie sie in der Bibel steht. Aber sie glaube an die Wahrheit, die diese Geschichte erzählt: Dass Gott Mensch geworden ist und dass er dies in äusserster Diskretion getan habe, ohne Spektakel, Pauken und Trompeten. Und sie glaube fest, dass dieser Jesus auf immer ist, was sein Name besagt: Immanuel, Gott mit uns. Sie habe das schon als kleines Mädchen erfahren dürfen. Doch erst, als sie schon ein paar Jahre Nonne war, sei ihr auch die Erkenntnis geschenkt worden, „dass er uns in Kreuz und Not allezeit hat beigestanden“.

Ich war noch daran, nach einer passenden Antwort zu suchte, als sie begann, mir die Geschichte von den italienischen Handschuhen zu erzählen: Die Geschichte eines Engels, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war, in der einsamsten Nacht ihres Lebens, an einer verlassenen Hotelbar. Die Geschichte einer geteilten Einsamkeit, von stinkenden Zigaretten und ihrem ersten Vollrausch, und von Armen, die sie gehalten haben, als sie am Morgen aufgewacht war. Diese Begegnung habe ihr die Kraft gegeben, sich der eigenen Geschichte und ihrer Dämonen zu stellen. Dabei habe der gute Engel von all dem gar nichts mitbekommen. Im Gegenteil, vermutlich würde er behaupten, es sei genau umgekehrt gewesen.

Das fröhliche Lachen meiner Begleiterin klang so spontan und authentisch, dass mir die Tränen kamen. Warum erzählt sie mir diese Geschichte, mir, einer Fremden? Wir kennen uns doch noch keine zwei Tage. Ich hasse es, vor anderen Menschen zu weinen, und daher war ich dankbar, dass sie sich der eingehenden Betrachtung eines blühenden Haselzweiges widmete, während ich verstohlen die Spuren meiner Tränen beseitigte.

Auf dem Rückweg fragte sie mich plötzlich, was es denn mit meinem geschärften Blick für gute Handschuhe auf sich habe. Die Frage war mir peinlich. Eigentlich spreche ich nicht gerne über meine Mutter. Irgendwie ist mir das zu intim. Unsere Beziehung ist so tief, so vertraut. Ich bin ihr einziges Kind, alles was sie hat. Und sie ist meine beste Freundin, meine einzig wirkliche. Ich weiss schon, was die Leute denken. Aber die verstehen das nicht. Und daher habe ich gelernt, lieber zu schweigen.

Diesen Blick, den habe mir meine Mutter eingeschärft, hörte ich mich schliesslich sagen, nachdem wir eine Weile wortlos nebeneinander gegangen waren. Für sie gebe es zwei Kriterien, an denen man die Klasse einer Frau erkenne: Den Klang ihrer Stimme und ihre Handschuhe.

Ja, meine Mutter hatte schon immer ihre eigenen Massstäbe. Seit ihr Vater sie als kleines Mädchen zum ersten Mal in die Mailänder Scala mitgenommen hatte, kannte sie nur ein Ziel: Opernsängerin zu werden. Diesem Traum hatte sie alles geopfert. Doch entweder war sie einfach nicht gut genug, oder sie hatte nicht die richtigen Freunde, oder beides zusammen. Wie auch immer, beim Versuch, es trotzdem irgendwie zu schaffen, hatte sie erst recht ihre Stimme ruiniert. Bis heute hat sie diese Niederlage nicht wirklich verdaut.

Es ist schon erstaunlich, dass ich dieser jungen Nonne all das erzählt habe. Meine Mutter hätte das nicht gewollt. Sie spricht nie über sich selber. Dafür umso mehr über mich. Wie sehr hätte sie sich gewünscht, dass ich ihren Traum verwirklichen würde. Ich weiss bis heute nicht, ob sie mir wirklich verziehen hat, dass ich die renommierte Opernausbildung in Italien abgebrochen habe und stattdessen in die Schweiz gefahren bin, um mich als Sängerin für Alte Musik ausbilden zu lassen.

Sie klang wieder einmal nicht sehr glücklich heute Abend und ich zögerte noch, ob ich ihr wirklich von dem Gespräch erzählen sollte, als es plötzlich an meiner Tür klopfte. Sie sei die Priorin und wolle sich nur kurz vorstellen, meinte die freundliche Nonne mit dem silbernen Kreuz über der Brust. Und als sie sah, dass ich am Telefon war, lud sie mich ein, später zu ihr ins Büro zu kommen, im zweiten Stock, links, am Ende des Ganges.

Mia Mamma hat es einmal mehr geschafft, mich in einer Mischung aus Ärger und schlechtem Gewissen zurückzulassen. Da tat es einfach gut, als ich wenig später an die offene Tür klopfte und mit einem munteren „hereinspaziert!“ empfangen wurde. Das Büro wirkte hell und leicht, kein Vergleich zur bedrückenden Atmosphäre im Besuchszimmer. Anstelle von alten Polstermöbeln standen bequeme IKEA-Sessel um einen kleinen Glastisch, auf dem eine Kerze brannte.

Die Schwester war jünger, als ich gedacht hätte. Sie war eben erst von einer Reise zurückgekommen. An der Garderobe hing ein eleganter Mantel und auf dem Tischchen daneben lag die ungeöffnete Post neben einer Handtasche und einem Paar abgenutzter Wollhandschuhe. Ihr Schreibtisch war aufgeräumt, und über der Lehne des Bürostuhls hing eine schwarze Strickjacke, ich tippe auf Kaschmir, eine dieser Jacken klassischer Twinsets, wie sie auch meine Schottische Gesangslehrerin zu tragen pflegte.

Was sie mir anbieten dürfe, fragte sie, nachdem sie mich eingeladen hatte, auf einem der Sessel Platz zu nehmen. Sie hätte da einen besonderen Whisky, einen Schottischen Single Malt, 19jährig, ein Geschenk einer Freundin. Und da diese so selten vorbeikommen und sie selber nie alleine trinke, müsse sie dafür immer ihre Gäste missbrauchen.

Starke Getränke sind eigentlich nicht so meine Sache, aber ihrer sanfte Stimme – die so gar nicht zu ihren Handschuhen passte – ihrer Herzlichkeit und ihrem entwaffnenden Humor konnte ich nicht widerstehen. Der Whisky war tatsächlich ausserordentlich, und mein Gegenüber war es auch. Sie war eine geduldige Zuhörerin und der ungewohnte Alkohol trug das Seine dazu bei, dass ich erzählte und erzählte.

Schliesslich fragte sie mich, wofür ich besonders dankbar sei am Ende dieses Jahres. Die Antwort fiel mir nicht schwer. Ich war 15, als ich zum ersten Mal die Solokantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ von Bach gehört hatte, gesungen von der legendären britischen Sopranistin Emma Kirkby. Von diesem Moment an hatte ich nur einen Traum: eines Tages zu singen wie sie. Dafür hatte ich alles geopfert, die Oper verlassen und den Traum meiner Mutter verraten. Und vor einem Monat war es endlich soweit. Ich hatte es tatsächlich geschafft: Der grosse Konzertsaal, bis auf den letzten Platz besetzt, die fantastischen Musiker und mitten drin ich, alleine vor all den Leuten, in meinem neuen Kleid, das ich speziell für diesen Anlass gekauft hatte. Natürlich war ich schrecklich nervös, aber es war alles gut gegangen. Die Leute waren zufrieden und die Kritiker auch. Nur meine Mutter war nicht gekommen. Dabei hatte ich ihr sogar das Flugticket bezahlt.

Ob ich es dabeihabe, das Kleid, fragte meine Zuhörerin schliesslich, nachdem mein Redefluss unvermittelt verstummt war. Natürlich, es sei in meinem Koffer. Ich möchte es doch meiner Mutter zeigen, erwiderte ich und ärgerte mich dabei über den Klang meiner Stimme. Die Schwester schien meinen Schmerz zu spüren und bot mir noch etwas Whisky an. Aber ich hatte genug. Ich fühlte mich plötzlich erschöpft und wollte nur noch schlafen. Schlafen und vergessen.

Ich hätte sie neugierig gemacht, hörte ich die Priorin mit gedämpfter Stimme sagen, als sie mich noch durch die nächtlichen Gänge zu meinem Zimmer begleitete. Sie würde mich so gerne singen hören. Ob ich nicht Lust hätte, die Kantate zu singen, am Neujahrstag, beim Festgottesdienst in der Klosterkirche?

Ich muss sie einen Moment lang entgeistert angestarrt haben. Nein, das gehe natürlich nicht, hallte meine Stimme durch den Gang. Ich sei zur Erholung gekommen, nicht zum Arbeiten. Ich werde morgen abreisen, um wie üblich Silvester mit meiner Mutter zu verbringen, und überhaupt, wie solle das denn gehen, in so kurzer Zeit und ohne Orchester?

Es ist klar, das Ganze ist natürlich völlig unrealistisch. Wenn da nur nicht dieser kurze Schatten auf ihrem Gesicht gewesen wäre, dieser leise Ausdruck von Enttäuschung in ihren Augen. Sollte sie es tatsächlich ernst gemeint haben?

31. Dezember

(9 Uhr) Ich habe meine Mutter angerufen. Mein Flug geht um 15 Uhr. Wenn alles gut geht, bin ich gegen 18 Uhr bei ihr. Die junge Schwester wird mich an den Bahnhof fahren.
Wer diese Schwester sei, von der ich dauernd rede, hat sie gefragt. Mein Gott, Mamma, wie ich diesen Klang in deiner Stimme hasse! Kannst Du nicht endlich aufhören damit? Nur weil ich immer noch keinen Freund habe. Den würdest du wahrscheinlich noch mehr hassen.

(12 Uhr) Ich bin eine Stunde lang dem Fluss entlang getigert, habe eine weitere Stunde in der kühlen Kirche gehadert und dann 30 Minuten auf die Priorin gewartet. Ob sie es wirklich ernst gemeint habe? Ja, hat sie, und wie! Auf ihrem Schreibtisch lag der Klavierauszug der Kantate bereit. Die Frau ist Konzertorganistin! Warum hat sie mir das nicht gleich gesagt?

(16 Uhr) Warum ich anrufe? Ich müsste doch längst im Flieger sitzen? Meine Mutter hat sofort begriffen, worum es ging, noch bevor ich etwas gesagt habe. Sie war ausser sich. Wie ich ihr das antun könne, sie einfach so im Stich zu lassen. Ich sei egoistisch und undankbar, nach allem, was sie für mich getan habe.
Ihre Worte tun mir weh und sie weiss das genau. Ich fühlte mich wie nackt im kalten Regen. Seit Stunden kämpfe ich gegen meine Schuldgefühle.
Schliesslich habe ich die junge Schwester gefragt, was sie getan hätte? Ob es wirklich egoistisch und herzlos von mir sei, meine Mutter an Silvester alleine zu lassen? Sie hat mich nur lächelnd angeschaut und gesagt, dass ich ihr eine grosse Freude mache, wenn ich bleibe… und vielen anderen auch.

1. Januar

Deo gratias, würden die Schwestern sagen. Dank sei Gott… wenn es DICH denn wirklich gibt.

Was für ein Beginn dieses Jahres! Wer hätte gedacht, dass ich heute hier sitze, alleine in meiner kleinen Wohnung, weit weg von meiner Mutter, völlig erschöpft, seit Stunden am Weinen, aber glücklich… wie noch nie!

Keine 24 Stunden ist es her, dass wir zum ersten Mal zusammen geprobt haben, die Priorin und ich, abends nach dem Gebet in der Klosterkirche. Es war kühl oben auf der Empore, aber als über unseren Köpfen die Trompetenregister der grossen Orgel erschallten, war alles vergessen: meine Anspannung, meine Zweifel, meine Ängste und diese ewigen Schuldgefühle. Sie ist einfach unglaublich! Es war, als ob wir uns blind verstehen würden, als ob wir schon immer zusammen musiziert hätten.

Zurück in meinem Zimmer las ich die Nachricht meiner Mutter. Ich brauche sie nicht anzurufen. Sie sei für eine Weile weggefahren. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Fast ein halbes Jahr hatte sie damals nicht mehr mit mir gesprochen, nachdem ich in die Schweiz gefahren war.

Eigentlich wollte ich schlafen gehen und mich auf den Morgen vorbereiten. Aber wie sollte das gehen mit dem ganzen Gefühlschaos, das in mir tobte? Nachdem ich mich eine Stunde lang verzweifelt hin und her gewälzt hatte, bin ich schliesslich aufgestanden und in die Kirche geflohen, wo die Schwestern den Jahreswechsel im Schweigen verbrachten. In meine Daunenjacke verpackt setzte ich mich in eine der hintersten Bänke. Vor mir verteilt sassen die Nonnen und dazwischen ein paar wenige Leute von auswärts. Ich suchte vergeblich nach der Priorin und der junge Schwester. Von hinten sehen sie alle gleich aus mit ihren schwarzen Schleiern. Und alle schauten sie nach vorne, wo inmitten von Kerzen ein sonnenförmiges Gebilde auf dem Altar stand, das „Allerheiligste“, wie mir die Priorin heute Morgen erklärte. Irgendwann begannen dann die Turmglocken über uns das alte Jahr auszuläuten. Ich genoss ihren warmen Klang. Und als mich schliesslich eine lächelnde Nonne sanft aus meinen Träumen weckte, war das neue Jahr schon über eine Stunde alt.

Ich war aufgeregt wie noch nie vor einem Konzert, als ich in meinem langen, schwarzen Kleid das Büro der Priorin betrat. Ich sehe einfach hinreissend aus, meinte sie begeistert, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte sie ihre Kaschmirjacke vom Stuhl genommen und mir um die Schultern gelegt. Es sei kühl in der Kirche und ich wolle ja wohl nicht in meiner Daunenjacke singen.

Seit zwei Stunden überlege ich, was ich als nächstes schreiben soll. Aber mir fehlen die Worte. Ich hatte auch schon bei Gottesdiensten gesungen, aber heute war es anders. Plötzlich war alles mit Sinn erfüllt:

„ Jauchzet Gott in allen Landen! …
dass er uns in Kreuz und Not allezeit hat beigestanden
.“

„Wir preisen, was er an uns hat getan.
Muss gleich der schwache Mund von seinen Wundern lallen,
so kann ein schlechtes Lob ihm dennoch wohlgefallen.“

Nein, ich bin nicht Emma und werde es auch nie sein. Aber es war meine Stimme, die heute diesen wunderbaren Kirchenraum erfüllt hat. Es war mein Schmerz, meine Sehnsucht und meine Freude. Und gleichzeitig war da mehr, viel mehr, als ob nicht ich selber gesungen hätte… als ob es in mir gesungen hätte… oder ER?

Als das letzte „Alleluja!“ verklungen war, begannen die Leute zu klatschen. Es waren nicht viele, aber das spielte keine Rolle. Ich sah die Freude in ihren Gesichtern. Und das machte mich froh.

Als „bescheidenen Dank“ hat mich die Priorin eingeladen, zusammen mit ihr und den Schwestern zu essen. Und als ich ihr schliesslich beim Abschied ihre Jacke zurückgeben wollte, meinte sie strahlend, ich könne sie bestimmt besser brauchen als sie. Das edle Stück passe perfekt zu meinem Kleid. Und vielleicht würde ich ja gelegentlich an sie und ihre Schwestern denken, wenn ich es beim Singen trage. Sie habe es damals mit ihrem ersten Konzerthonorar gekauft. Doch seit sie im Kloster ist, sei es eigentlich nur noch ein heimlicher Tröster, wenn zwischendurch mal nostalgische Sehnsüchte in ihr wach werden.

Mein Gott, ich liebe ihren Humor, ihre Selbstironie und ihr Lächeln. Dabei hätte ich schwören können, in ihren Augen eine Träne gesehen zu haben, als sie mich zum Abschied spontan umarmt hat.

Als ihre junge Mitschwester und ich wenig später im Auto sassen und schon im Begriff waren loszufahren, kam die Priorin noch einmal mit wehendem Schleier aus dem Haus gestürzt und überreichte mir noch eine Plastiktüte. Ich hatte diese spontan in meine Tasche gesteckt und erst zuhause beim Auspacken entdeckte ich darin den schwarzen Pullover, das passende Stück, das aus der Jacke ein Twinset macht.

„Was macht für dich eine Freundin aus?“, hatte ich die junge Schwester gefragt, bevor wir am Bahnhof aus dem Auto gestiegen sind. Ihre Antwort war ebenso spontan wie kurz:

„Eine Freundin ist jemand, der dir seine besten Handschuhe gibt, wenn du im Regen stehst und kalt hast.“

Warum sie? XXIV (der Festprediger)

(aus den Aufzeichnungen eines Priesters über die Qualen einer heimlichen Liebe)

26. Dezember, 22 Uhr

Weihnachten ist definitiv nicht meine Zeit.

Daran können auch die wunderbaren Festgottesdienste im Kloster nichts ändern. Dabei hatte ich mich so gefreut auf diese Tage, auf die liebevoll geschmückte Kirche, auf den Gesang der Nonnen, auf die gesammelte Stille im Kloster und auf sie, die Frau meiner Träume.

Doch einmal mehr haben sich meine Hoffnungen nicht erfüllt. Einmal mehr sitze ich da in meinem Gastzimmer, alleine vor meinem Laptop, mit einer Kerze und einer Flasche Talisker Whisky, meinem liebgewonnenen Begleiter in solch einsamen, verregneten Winternächten.

Es ist jedes Jahr dasselbe. Da hat man sich wochenlang vorbereitet, wunderbare Predigten gehalten und sich und den anderen eingeredet, wie sehr sich Gott nach uns sehnt und wie sehr wir uns freuen dürfen, dass er sich herablässt, für uns Mensch zu werden. Und dann ist Heilig Abend und ich spüre einfach nichts. Gar nichts! Nur immer wieder diese Müdigkeit und Leere, diese innere Kälte und Kraftlosigkeit, wenn ich in der Sakristei stehe und darauf warte, für das verwöhnte Festtagspublikum die Hochheiligste Nacht zu feiern.

Da kann die junge Nonne noch so oft diesen Peter Faber zitieren, einen der ersten Jesuiten, dem es offenbar ähnlich ergangen ist, weil er im entscheidenden Moment seine innere Wohnung so kalt und unvorbereitet fand. Ich solle doch froh sein, denn „das bedeutet, dass Christus in einen Stall kommen will. Wenn du nämlich schon glühend wärest, fändest Du jetzt die Menschheit deines Herrn nicht; denn du sähest viel weniger einem Stall ähnlich.“

Diese Weisheit hat sie natürlich von ihrem geistlichen Begleiter, einem Jesuiten. Na klar, für das hübsche Bankierstöchterchen ist nur das Beste gut genug. Mit einem normalen Priester wie mir gibt die sich nicht ab. Das hat sie mir schnell zu verstehen gegeben, nachdem ich damals vor drei Jahren zum ersten Mal gekommen war, um mit den Schwestern Weihnachten zu feiern. Nie werde ich diese unterkühlte Freundlichkeit vergessen, mit der sie mich damals am Bahnhof abgesetzt hat. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, aus dem Wagen zu steigen, obwohl sie wusste, dass ich keinen Schirm dabei hatte.

Es hatte nur einmal geregnet an diesem Tag, genau wie heute. Noch immer weht der Wind den Regen gegen mein Fenster. Vor Stunden schon hat er den Rest der weissen Pracht hinweggefegt, die noch vor ein paar Tagen im Mondschein den Klostergarten verzaubert hatte. Jetzt ist da nur mehr nackte Finsternis unter meinem Fenster. Nur drüben beim Friedhof stemmt sich noch das eine oder andere Grablicht gegen die Gewalten der Natur. Und gegenüber bei den Schwestern leuchtet es noch gelb aus einzelnen Fenstern. Auch oben links im zweiten Stock. Einen Moment lang glaubte ich, ihren Schatten hinter dem Vorhang zu sehen. Was würde ich dafür geben, einmal ihre Zelle zu besuchen. Was macht sie wohl gerade? Und woran denkt sie?

Wie auch immer, Prost, auf dein Wohl, Du Gefährtin meiner Träume!

Sie war mir damals sofort aufgefallen. Irgendwie war sie anders als die anderen Frauen in unserer Kursgruppe, reifer, selbstbewusster, erwachsener. Sie hatte nicht viel gesagt, aber was sie gesagt hat, hatte Hand und Fuss. Ich mochte ihre Stimme. Und ich mochte ihr Gesicht, vor allem wenn sie lächelte. Nie werde ich meine Verblüffung vergessen, als ich ihr und ihrer Mitnovizin beim Joggen begegnet bin. Ich hatte sie erst gar nicht erkannt mit ihren nackenlangen, dunklen Haaren. Irgendwie hatte ich sie mir unter ihrem Schleier blond und kurzhaarig vorgestellt. Doch diese „Enttäuschung“ hatte sie für mich nur noch faszinierender gemacht.

Mein Gott, über fünfundzwanzig Jahre ist das nun her. Ich war damals noch Novize bei den Benediktinern. Wie sehr hatte ich es genossen, endlich einmal aus meinem Kloster herauszukommen, weg von diesen alten Männern. Was hatte ich kämpfen müssen, um von meinem Abt die Erlaubnis zu bekommen, an dieser Studienwoche für Novizinnen und Novizen teilnehmen zu dürfen. Im Nachhinein gesehen war es ein Kampf auf Leben und Tod. Ich hätte es mir nie eingestanden, aber ich war innerlich tot, abgelöscht, am Rande einer Depression.

Sie hatte mich damals von einem Moment auf den anderen wieder zum Leben erweckt. Dabei hatte sie von all dem natürlich nichts mitbekommen. Wie hätte sie auch wissen sollen, was hinter meiner abgeklärten Fassade vor sich ging. Ich war viel zu scheu und ängstlich, um irgendetwas von meinen Gefühlen zu zeigen.

Sie war eine der ersten gewesen, die sich zurückgezogen hatten, als wir am letzten Abend vor dem Haus den Abschluss des Kurses gefeiert haben. Ihr Weinglas war noch halb voll, während unser Kursleiter schon die vierte Flasche öffnete. Als auch ich irgendwann gegen Mitternacht aufgestanden war, musste ich ums Gleichgewicht ringen. Die Aussicht, am nächsten Tag wieder hinter die Klostermauern zurückzumüssen, war durch den Alkohol nicht erträglicher geworden. Im Gegenteil.

Irgendwie hatte ich mich in dieser Nacht überwinden können, doch noch kurz in die Hauskapelle zu gehen, wo ich mich zuhinterst auf einen Stuhl sinken liess. Ich war so benommen, dass ich erst gar nicht bemerk hatte, dass ich nicht alleine war. Sie sass vorne beim Tabernakel. Es konnte nur sie sein. Wir hatten nur zwei Novizinnen mit weissem Schleier, und ihre Kollegin sass immer noch draussen mit dem Kursleiter am Diskutieren.

Die Nebel in meinem Kopf hatten sich schlagartig verzogen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ein unvergesslicher Moment der Intimität, nur sie und ich, umgeben von der unheimliche Stille dieser Kapelle. Einzig der flackernde Schein des ewigen Lichtes sorgte für etwas Bewegung an den Wänden, und an der Seite ihres Stuhles baumelten gelegentlich die losen Ärmel der schwarzen Strickjacke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte.

Was war wohl damals in ihr vorgegangen? Was hatte sie um diese Zeit noch zu besprechen mit ihrem Jesus? Ging es ihr vielleicht wie mir? Hatte sie mit ihren Zweifeln gerungen? War sie vielleicht auch zur Einsicht gekommen, dass das kein Leben sei für eine intelligente junge Frau wie sie? Ich hatte selten so intensiv gebetet wie in dieser Nacht, für sie, für ihre Zukunft, für eine weise Entscheidung, und für mich.

Ich weiss nicht, wie lange ich so dagesessen war und sie angestarrt hatte. Irgendwann hat sie sich plötzlich umgedreht, als ob sie erst jetzt meiner gewahr wurde. Im Schein der Kerzen sah ich das Erstaunen in ihrem Gesicht. Und nach kurzem Zögern verneigte sie sich vor dem Tabernakel und eilte wortlose an mir vorbei aus der Kapelle. Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt wahrgenommen hatte, wer da mit ihr im Dunkeln sass. Und selbst wenn, es hätte wohl für sie keine Rolle gespielt.

Ja, Prost, meine Liebe! Ich trinke auf Dich, Du ahnungsloses Objekt meiner Sehnsucht!

Eigentlich war mir damals schon klar, dass ich am falschen Ort war. Ich war nicht geschaffen fürs Kloster. Der Umstand, dass ich mich Hals über Kopf verliebt hatte, war zwar kein Beweis dafür. Aber es war der Anlass, der mich aus meiner Lethargie gerissen hatte und mich befähigt hat, eine Entscheidung zu treffen und den Orden zu verlassen. Dass ich dennoch Priester geworden bin, lag einerseits an meiner Liebe für Christus, anderseits aber auch an der festen Überzeugung, dass es neben ihr keine andere Frau in meinem Leben geben kann. Und da sie noch im selben Jahr ihre erste Profess abgelegt hat, hatte sie ohne es zu wissen auch meine Lebenswahl entschieden.

Immerhin hatte ich damals den Mut, meinem Bischof davon zu erzählen. Und der hatte die Weisheit, mich fürs Studium ins Ausland zu schicken, wo ich schliesslich fast zwanzig Jahre geblieben bin. Diese Zeit war so reich und erfüllt mit spannenden Aufgaben und Begegnungen, dass die Erinnerung an meine Liebe allmählich verblasst ist. Erst als ich vor ein paar Jahren zurückkam und eines Tages angefragt wurde, ob ich nicht im Kloster die Weihnachtsliturgien feiern könnte, war sie plötzlich wieder da. Und mit ihr die Gefühle, wie wenn ich nie weggewesen wäre. Dann stand ich vor ihr. Ich hatte sie sofort erkannt, ihren selbstbewussten Blick, ihr Lächeln, die warme Stimme. Nur der Schleier war jetzt schwarz, und über ihrer Brust hing ein kunstvolles Kreuz.

Glückwunsch, ehrwürdige Frau Priorin! Sie haben es zu etwas gebracht! Auf Ihr Wohl!

Ich hatte von Anfang an gewusst, dass sie das Zeug dazu hat. Sie war genau der Typ, ruhig, überlegt, verantwortungsbewusst, vorbildlich. Ich hatte mich immer gefragt, was eigentlich ihr wirklicher Name ist. Der Ordensname schien mir irgendwie nicht zu ihr zu passen. Ich hätte auf Petra getippt. Keine Ahnung warum. Sie war für mich einfach eine typische Petra. Vielleicht wegen Petrus? Wobei, so leidenschaftlich wie Petrus, nein, das war sie nicht. Petrus hätte sicher mit mir einen Whisky getrunken. Petra nicht, nein, ganz bestimmt nicht!

Oh, ja, das Licht ist aus bei ihr. Die ehrwürdige Frau Mutter schläft den Schlaf des Simeon.

Gott schenke Dir schöne Träume, liebe Petra! Ich trinke derweil auf Dein Wohl. Prost!

Ahnt sie überhaupt, wie glücklich sie mich gemacht hat, als sie mich am Weihnachtstag nach dem Mittagessen zu einem Spaziergang eingeladen hat? Es war das erste Mal in all den Jahren. Sie sah einfach umwerfend aus in ihrem eleganten, schwarzen Mantel. Das sei ein Designerstück, hat sie mir schmunzelnd gestanden, aus der Zeit vor ihrem Eintritt ins Kloster, eine Kreation der verstorbenen Mutter ihrer jungen Mitschwester, meiner speziellen Freundin.

Ich weiss nicht, was in sie gefahren war. So war sie noch nie zu mir. Irgendwann hatte es zu regnen begonnen. Wir hatten nur einen Schirm dabei und sie hatte doch tatsächlich bei mir untergehakt. Zurück im Kloster hatte sie mich im Gästesalon installiert und unsere Mäntel zum Trocknen aufgehängt. Und als sie wenig später mit Tee und Kuchen wiederkam, trug sie eine elegante schwarze Kaschmirjacke um ihre Schultern drapiert, genauso wie damals nachts in der Kapelle. Es war zum Verrücktwerden. Zum ersten Mal schien sie mich wirklich wahrzunehmen. Zum ersten Mal überhaupt hatte ich das Gefühl, von ihr angeschaut zu werden, nicht als hochwürdiger Priester von der ehrwürdigen Frau Prioren, nein, so richtig von Mensch zu Mensch, von Frau zu Mann.

Mein Gott, es ist einfach nur zum Heulen! Jubeln hätte ich wollen, wie die Engel an Weihnachten; ihr sagen, wie sehr ich mich freue, wie schön es ist, dass wir uns endlich etwas kennenlernen. Und danken hätte ich ihr wolle, danken und gratulieren für diese sagenhafte Toccata und Fuge von Bach, die sie zum Schluss des Festgottesdienstes gespielt hat. Wie sehr mich gerade dieses Stück zutiefst berührt hat. Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung, dass sie… Aber nein, nichts von dem habe ich über die Lippen gebracht. Stattdessen habe ich über alles und nichts geredet, über den Gang der Welt, das Elend der Kirche, über Skandale und Missbräuche, über die Schwierigkeit, in dieser Zeit noch so etwas wie Hoffnung zu predigen, und und und…

Und Du, Du bist einfach dagesessen, wie eine schwarze Madonna auf ihrem Thron, hast zugehört, ehrwürdig, elegant, lächelnd… mit Deinem Lächeln, das so unglaublich schön ist, und das doch mit der Zeit wieder nur das gnädig unverbindliche Lächeln einer ehrwürdigen Frau Mutter war.

Und dann hat diese Scheissglocke geläutet. Du bist aufgestanden, hast mir für meine Zeit gedankt, mir höflich die Hand gereicht und schon warst Du mit wehender Strickjacke zur Vesper entschwunden. Und Tschüss! Das war’s dann!

Nein, meine Liebe, dieser letzte Drink ist nicht für Dich! Den brauch ich jetzt für mich! Für mich ganz allein! Prost, alter Junge!

Mein Gott, Petra, was machst Du mit mir?
Da pennst Du einfach so ruhig in Deiner Zelle… und was ist mit mir?
Wie kannst Du mir das antun? Merkst Du denn gar nicht…?
Aber nein, natürlich nicht… Du hast noch nie…
Meinst Du denn wirklich, Du seist etwas Besseres als ich, nur weil Du die Heilige spielst, Dich in die Kapelle verkriechst und mich alleine saufen lässt?
Für wen haltet Ihr Euch eigentlich, Du und Deine blasierte Supernonne?
Aber klar, ich verstehe schon, die ehrwürdige Frau Mutter hat ihren Schützling gewarnt vor dem bösen Wolf… vor dem scheinheiligen Priester, der nachts in der Kapelle junge Schwestern stalkt… also immer schön auf Distanz bleiben, nett sein, lächeln, mehr nicht… auf keinen Fall!

Verdammt noch mal, Petra, oder wie immer Du wirklich heisst, warum kannst Du mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Warum quälst Du mich mit Deinem geheuchelten Interesse, Deinem noblen Schweigen und Deinem verdammten Lächeln?
Ich bin Dir doch scheissegal… immer schon.
Ich war doch immer nur Luft für Dich… ausser natürlich als Sakramentenspender… dafür bin ich gut genug… um Euch Euren geliebten Jesus zu verschaffen.
Weisst Du eigentlich, wie sehr ich Dich dafür hasse, Dich und all Deine frommen Pinguine.

Oh mein Gott, was schreibe ich hier zusammen!
Herr, hilf mir!!!

Petra, vergib mir, bitte! Ich brauche Dich…
Wo bist Du? Hör mir zu! Ich will doch nur…

Petra!

*******

27. Dezember, 20 Uhr

Ich wage es nicht, den Brief zu öffnen.

Seit Stunden liegt er vor mir auf dem Tisch, neben meinem Laptop. Auch diesen wage ich kaum mehr aufzuklappen, nachdem ich heute Nachmittag meinen Eintrag von gestern Nacht gelesen hatte. Ich war nahe daran, die Seiten zu löschen. Aber nein! Die gehören zu mir. Sie sind ab sofort Teil meines Lebens. Ich kann nicht so tun, als ob nichts gewesen wäre.

Irgendwie ist es schon ein Wunder. Manch einer hätte sich an meiner Stelle wohl vor Scham umgebracht. Auch ich war nahe dran, heute Morgen, als ich bei Tageslicht aufgewacht war und noch im Halbschlaf die Glockenschläge der Turmuhr mitgezählt hatte. Es waren neun. Um acht Uhr war ich für die Messe vorgesehen.

Ich hasse dieses Gefühl, wenn einem schlagartig der Schock der Erkenntnis trifft und das Adrenalin in den Körper schiesst. Mein Gott, das war mir noch nie passiert, seit ich zum Priester geweiht worden bin. Man kann mir vieles vorwerfen, aber in dieser Beziehung war ich die Zuverlässigkeit in Person, und immer schon eine halbe Stunde vorher in der Sakristei. Aber warum hat mich niemand geweckt? Warum sind die Schwestern nicht klopfen gekommen?

Die Frage war verwirrend, wurde aber schnell von einer viel grundsätzlicheren und weit verwirrenderen Frage abgelöst: Wie zum Teufel bin ich überhaupt ins Bett gekommen? Ich hatte mein Pyjama nicht an, nur ein T-Shirt und meine Unterhose. Mein Rollkragenpullover, meine Hose und meine Socken lagen sorgfältig zusammengelegt auf einem Stuhl und mein Cardigan hing über der Lehne. Diese Mühe hätte ich mir nie gemacht. Was war hier los?

Die ältere Schwester, die mir schliesslich das Frühstück servierte, strahlte über das ganze Gesicht. Der alte Stadtpfarrer sei heute seit langem wieder einmal zum Konzelebrieren gekommen. Er habe sich so gefreut, die Messe mit ihnen feiern zu dürfen. Und die ehrwürdige Mutter lasse mich herzlich grüssen. Sie sei direkt nach dem Gottesdienst für zwei Tage zu ihrer Familie gefahren. Und ob ich schon am Morgen abreise oder noch bis zum Mittagessen bleibe?

Am liebsten hätte ich mich ja sofort und diskret mit einem Taxi aus dem Staub gemacht. Aber das hätten mir die Schwestern nie verziehen. Und so sass ich zwei Stunden später einmal mehr neben der jungen Schwester im Auto. Ich fühlte mich entsetzlich, verstand überhaupt nichts und betete vergeblich, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Mein Kopf schmerzte, mein Magen rebellierte und mein ganzer Körper fröstelte unter dem warmen Mantel. Irgendwie hätte ich das quälende Schweigen brechen wollen, aber mir fehlten die Worte. Ich wagte nicht sie anzuschauen und starrte wie betäubt durch das Seitenfenster ins Leere.

„Wer ist Petra?“, hörte ich sie plötzlich fragen, als wir auf die Autobahn eingebogen waren. Ich war so verblüfft, dass ich sie nur verständnislos anstarrte. Sie hatte kurz ihren Kopf gedreht, aber da war keine Spur von Spott in ihren Augen. Und auch ihre Stimme klang ruhig und ernst: Ich hätte immer wieder nach Petra gerufen, heute Nacht, kurz nach zwölf, als ich sichtlich verzweifelt mit den Fäusten an die Tür zur Klausur gepoltert habe. Ich müsse wohl einen Zusammenbruch gehabt haben, oder einen schlechten Traum. Sie hätten mich schliesslich mit vereinten Kräften beruhigt und ins Bett gebracht.

Ich konnte es kaum fassen, was ich da hörte. Und doch zweifelte ich keinen Moment, dass sie die Wahrheit sagte. War es der Klang ihrer Stimme? Diese unaufgeregte Gelassenheit, als ob sie über das Normalste der Welt reden würde, und das völlige Fehlen jedes verächtlichen oder vorwurfsvollen Untertones? Was immer es war, sie hatte es irgendwie geschafft, mich durch die Rüstung meiner Scham und meines verletzten Stolzes hindurch zu berühren.

Wer denn alles dabei gewesen sei, wagte ich schliesslich zu fragen, während ich gespannt ihre Hände betrachtete, die in eleganten schwarzen Lederhandschuhen auf dem Lenkrad ruhten, bevor sie wieder aktiv wurden, als wir in die Ausfahrt einbogen. Und plötzlich hätte ich mir gewünscht, dass sie einfach weiterfährt, geradeaus, irgendwohin. Wie anders es doch war als das letzte Mal! Ja, ich fühlte mich auf einmal wohl bei ihr. Irgendwie tat mir diese junge Frau gut, ihre konzentrierte Gegenwart und die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der sie uns ans Ziel führte.

Ich solle mir nicht zu viele Gedanken machen, meinte sie, nachdem sie kurz darauf auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof den Motor abgestellt hatte. Wir seien alle nur Menschen, egal ob nun Priester oder Nonnen. Manchmal stosse man einfach an seine Grenzen. Auch sie habe das erfahren müssen. Aber vielleicht sei das ja gut so. Vielleicht seien ja gerade das die Momente, die wir brauchen, um zu erfahren, worum es wirklich geht.

Ich gebe es ja nicht gern zu, aber als wir uns wenig später auf dem Bahnsteig gegenüberstanden, musste ich spontan an ihren Jesuiten denken, und an die Geschichte mit dem kalten Stall. Wer immer dieser geistliche Begleiter ist, er kann stolz sein, einen solchen Engel begleiten zu dürfen. Mein Gott, sie sah einfach unglaublich aus in ihrem langen Daunenmantel und dem schwarzen Schleier, der immer wieder munter im Wind um ihren Kopf flatterte. Was immer bisher zwischen uns gestanden haben mag, in diesem Moment hätte ich sie am liebsten umarmt… und nie mehr losgelassen.

Sie hatte sich den Handschuh ausgezogen, als sie mir zum Abschied die Hand reichte. Und als ich den Zug besteigen wollte, hielt sie mich plötzlich zurück. Jetzt hätte sie doch fast noch den Brief vergessen, den sie mir übergeben sollte, meinte sie mit einem verschämten Lächeln. Sie wolle mir auch noch danken für die wunderbaren Gottesdienste und meine Predigtgedanken. Das hätte ihr sehr geholfen. Sie freue sich schon auf Ostern. Ich käme doch wieder für die Ostertage, oder?

Und nun sitze ich also da vor diesem ungeöffneten Brief und betrachte meinen Namen auf dem Umschlag. Es ist ihre Handschrift, keine Frage, ruhig, harmonisch, gefasst, ohne Schnörkel. Ich kenne sie von Zetteln mit den Anweisungen, die sie mir jeweils für die Liturgie gibt.

Zum x-ten Mal schon hatte ich den Brieföffner in der Hand, und immer habe ich ihn wieder weggelegt. Doch dann lag da plötzlich der Zettel vor mir mit diesem Satz aus der Weihnachtsansprache von Papst Franziskus an seine Kurie. Ich hatte ihn mir aufgeschrieben für später, irgendwann einmal in einer Predigt oder einem Vortrag:

„Demut ist die Fähigkeit, unser Menschsein ohne Verzweiflung, mit Realismus, Freude und Hoffnung auszufüllen; dieses Menschsein, das vom Herrn geliebt und gesegnet wird. Demut bedeutet zu verstehen, dass wir uns unserer Schwäche nicht schämen müssen“.

Dann mal los, alter Junge! Diesmal legst Du den Brieföffner nicht mehr weg!

Warum sie? XXIII (eine Auferstehende)

(aus dem Tagebuch einer Überlebenden, ACHTUNG Triggerwarnung!)


„Ich stehe Auge in Auge mit deiner Welt, Gott, und flüchte mich vor der Realität nicht in schöne Träume, obwohl ich glaube, dass auch neben der grausamen Realität Platz für schöne Träume ist – ich preise weiterhin deine Schöpfung, Gott – trotz allem!“

An die Worte von Etty Hillesum musste ich denken, als ich heute Abend den beiden jungen Frauen zusah, wie sie auf ihren Fahrrädern durch die reifen Kornfelder fuhren und mit einem letzten Winken hinter der Biegung beim Wegkreuz verschwanden. Da war dieses tiefempfunden Glück über die gemeinsam verbrachten Stunden, in dem aber gleichzeitig der Schmerz der Einsamkeit zu brennen begann, dieser einzig treue Begleiter meines Lebens… und mit ihm die Angst, dass alles nur ein schöner Traum gewesen war.

Ich hatte mich so gefreut, als mich gestern meine Freundin angerufen hat, die junge Krankenschwester von der Gemeinde. Sie habe das Wochenende frei und mache einen Ausflug. Ob ich da sei und ob sie mich besuchen dürfe? Wir kennen uns eigentlich noch nicht sehr lange. Sie hatte mir geholfen, meinen Vater zu pflegen in den letzten Wochen vor dem Tod. Und dabei hatten wir uns angefreundet. Ich hatte ihr von meiner Liebe zu Etty Hillesum erzählt und konnte es kaum glauben, als sie mir vor zwei Monaten anvertraut hat, dass sie Jüdin sei. Sie wirkte dabei so selbstbewusst und aufgeblüht. Ihr Vertrauen hat mich tief berührt. Sie hat mir eine leise Ahnung von dem Gefühl geschenkt, das mir nie vergönnt sein wird: dem Stolz einer Mutter auf ihr Kind.

Ob sie ihre Freundin mitbringen dürfe? Ich wisse schon, die junge Nonne, von der sie mir erzählt habe. Ich war etwas überrascht. Noch vor wenigen Wochen hatte sie sich bei mir ausgeweint, weil sie einfach nicht verstehen konnte, warum diese Schwester immer so böse zu ihr war. Und nun das.

Natürlich habe ich ja gesagt. Nein sagen war noch nie meine Stärke. Aber der Gedanke, eine Nonne im schwarzen Habit in meinem Haus zu haben, brachte mich wieder einmal an meine Grenzen. Wie oft hatte ich selber so ein Gewand getragen? Meine Mutter hatte es eigenhändig für mich genäht… für die ganz speziellen Gelegenheiten. Plötzlich waren sie wieder da, all die Bilder und der Schmerz. Dank meiner Tabletten habe ich es irgendwie geschafft, die Nacht zu überstehen. Mehrfach hatte ich das Handy in der Hand, um den Besuch abzusagen. Am Morgen habe ich meine Therapeutin angerufen. Sie war stolz auf mich. Und ich bin es auch. Stolz und dankbar, dass ich irgendwie die Kraft gefunden habe, der Realität eine Chance zu geben und nicht wieder zu flüchten.

Ich sah die beiden von weitem kommen. Ich war ihnen bis zum Wegkreuz entgegengegangen. Das war wichtig für mich. Es gab mir ein Gefühl von Kontrolle. Eingehüllt in meine Kaschmir Stola sass ich auf der Bank im Schatten des Kreuzes und genoss die würzige Spätsommerluft, die der milde Wind über die wogenden Felder und durch meine Haare wehte.

Auch die Haare meiner jungen Freundin und ihr weisses Sommerkleid wehten munter im Wind, als sie auf ihrem Rad den leichten Anstieg hinauf zu mir in Angriff nahm. Ich erkannte sie sofort an der hellblauen Strickjacke, die sich deutlich von den Farben der Umgebung abhob. In ihrem Windschatten folgte eine dunkle Gestalt, bei deren Anblick ich mich unwillkürlich tiefer in meine Stola verkroch. Erst als die beiden näher kamen und ich erkannte, dass die Nonne gar kein Ordensgewand trug, begann sich meine Anspannung zu lösen. Nie werde ich ihre strahlenden Augen und die glühenden Wangen vergessen, als sie schliesslich vor mir stand und mir die Hand reichte. Sie sah so natürlich und normal aus in ihrem langen, schwarzen Sommerrock, dem schwarzen Rollkragentop und einer graue Strickjacke, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. „Zu flache Brüste“, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf, und so sehr ich mich dafür schämte, der Gedanke hatte irgendwie etwas Beruhigendes.

„Mein Gott, wie schön es hier ist!“, hörte ich sie in ehrlicher Bewunderung sagen, als wir uns wenig später im Garten vor meinem Haus zum Kaffee niederliessen. Es war das erste Mal, dass ich alle drei Gartenstühle brauchte, die ich mir vor einem Jahr angeschafft hatte. Die beiden lobten den Kuchen, den ich gebacken hatte, und das Tempo, in dem dieser verschwand, liess keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinten. Das tat mir unendlich gut. Wie sehr habe ich mich nach solchen Momenten gesehnt! Nach Begegnung in Wahrheit und Freiheit. Und nach der Geborgenheit in Gemeinschaft von Menschen, die echt sind, ehrlich und dankbar. Menschen, die einem nicht andauernd etwas vorlügen und sich hinter Masken verstecken. Menschen, für die man mehr ist als nur ein Objekt der Begierde.

„Das Leben ist es Wert, gelebt zu werden. Gott, ein wenig bist du doch bei mir.“

Wie Recht sie hat, die gute Etty, dachte ich mir, als ich später von der Küche aus die beiden jungen Frauen betrachtete, die draussen auf der Wiese eine Siesta machten. Sie hatten ihre Jacken ausgezogen, sich mit Sonnencrème eingerieben und ihre Röcke bis zu den Hüften hochgezogen. Wie friedlich sie dalagen, ausgestreckt in der Sonne. Was für ein schönes Bild! Und was für ein Vertrauen! Ich wünschte, ich könnte so sein wie sie und auch einmal einfach loslassen! Der Anblick tat mir weh, und doch war ich so glücklich wie noch nie. Fühlt sich so eine Mutter, wenn sie das Glück ihrer Kinder sieht?

Die junge Krankenschwester hatte mein Herz vom ersten Moment an erobert. Ich weiss nicht warum, aber ich hatte sofort Vertrauen zu ihr gefasst. Vielleicht lag es daran, dass sie schnell begriffen hatte, wie schlecht es mir ging und wie unerträglich es für mich war, diesen Mann zu betreuen, der rein biologisch gesehen das Recht hatte, sich mein Vater zu nennen. Natürlich hatte sie keine Ahnung. Sie pflegte ihn mit all ihrer Aufmerksamkeit und Professionalität wie jeden anderen Patienten auch. Aber einen guten Teil der Zeit schenkte sie mir. Sie hat für mich seine schmutzige Wäsche gewaschen, brachte mir neue, homöopathische Medikamente und ermutigte mich immer wieder, für eine Weile in mein Landhaus zu fahren, das ich mir mit dem Erbteil meiner Mutter gekauft hatte.

Nach dem Tod ihres Patienten hatte sie mich sofort gedrängt, das Haus meiner Eltern zu verkaufen. Sie spüre einen schlechten Geist darin und sie habe den Eindruck, es mache mich krank. Ich hätte sie umarmen können und einen Moment lang war ich versucht, mit ihr zu reden. Doch was hätte ich ihr sagen sollen? Die Wahrheit? Welche Wahrheit? Und wozu? Würde sie mir glauben? Nein, es ist vorbei. Meine Mutter ist tot, mein Vater ist tot, und ich bin zu alt. Man braucht mich nicht mehr.

Aber ich brauche junge Menschen wie sie. Menschen, die ans Leben glauben und die mir helfen, ans Leben zu glauben. Menschen, die mich erfahren lassen, dass Etty nicht verrückt war und dass es auch heute möglich ist, zu rufen:

„Das Leben ist schön. Und ich glaube an Gott. Und ich will mittendrin in alldem sein, was die Menschen ‚Gräueltaten‘ nennen und dann noch sagen: Das Leben ist schön.“

„Darf ich helfen?“ wurde ich plötzlich von einer Stimme aus meinen Gedanken gerissen. Wie gelähmt vor Schreck starrte ich auf die dunkle Gestalt, die im Türrahmen stand, während sich die Scherben eines Tellers über den Küchenboden verteilten. Die arme Nonne war mindestens so schockiert wie ich, wobei ich nicht sagen könnte, ob es meine heftige Reaktion war oder der Anblick meiner entblössten Arme. Reflexartig zog ich die Ärmel meines Pullovers über die Narben, bevor ich mit zitternden Händen begann, die Scherben auf dem Boden zusammenzuwischen. Doch bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte mir die junge Frau den Besen aus der Hand genommen und mich behutsam auf einen Stuhl gesetzt.

Sie habe die Bilder gesehen, die draussen im Gang hängen, sagte sie, nachdem sie die Überreste des Tellers im Müll entsorgt hatte. Sie seien unglaublich ausdrucksstark. Ob ich sie gemalt habe?

Ich schaute sie wortlos an. Was hätte ich sagen sollen? Danke? Doch in wessen Namen? Ja, es war meine Hand gewesen, damals in der Klinik. Aber habe tatsächlich auch ich sie gemalt? Gab es damals überhaupt so etwas wie ein Ich?

Sie hatte mich durchschaut. Ich sah es in ihren Augen. Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten und drehte mich um. Draussen im Garten lag meine kleine Etty auf der Wiese, in ihrem hellen Sommerkleid, mit meiner Katze, die sich gegen ihre Hüfte kuschelte. Die beiden schienen zu schlafen. Was für ein Bild des Friedens!

Sie sei auch einmal vergewaltigt worden, hörte ich hinter mir die sanfte Stimme der Nonne.

„Einmal!“ entfuhr es mir unwillkürlich, und ich hasste mich dafür, noch bevor meine schneidende Stimme verklungen war.

Ich weiss, sie hat es gut gemeint. Sie wollte mir zeigen, dass sie mich versteht; dass sie mein Leiden mitfühlen kann. Aber nein, das kann sie nicht! Wie soll sie verstehen, was sich jeder menschlichen Vorstellungskraft entzieht? Wie soll sie mitfühlen, wo jedes Gefühl radikal ausgelöscht wird und nur noch stumme Ohnmacht bleibt? Nein, sie kann es nicht, und sie wird es auch nie können. Aber sie soll es auch gar nicht können. Ich will nicht, dass sie es kann. Ich brauche nicht ihr Verständnis, und auch nicht ihr Mitgefühl. Ich brauche sie, so wie sie ist, ihre Natürlichkeit und ihre Lebendigkeit, ihre Offenheit und ihre Herzlichkeit, ihren Glauben und ihre Hoffnung. Ja, was ich wirklich brauche, ist ihr Dasein und ihre Freundschaft.

Ich wagte nicht mich umzudrehen. Draussen vor dem Haus räkelten sich die beiden Schläfer in der Sonne, während sich mein ganzer Körper kalt anfühlte. Ich weiss nicht, wie lange ich zitternd so dagestanden bin. Instinktiv wartete ich auf die Strafe, auf irgendeine Form von Gewalt, die unfehlbar immer kam, wenn ich aufbegehrt habe. Doch stattdessen legte sich behutsam und wie von Geisterhand die warme Stola um meine Schultern. Und als ich mich endlich aus meiner Starre löste und umdrehte, wurde ich von Augen empfangen, die mich wie magisch aus den Klauen meiner Vergangenheit in die Gegenwart zurückholten. Und plötzlich erschien mir ihre Brust mächtig und voll, als ich mich an sie drückte und kräftigen Arme mich umschlossen.

„Ich fühle mich in niemandes Klauen, ich fühle mich nur in Gottes Armen… ich werde mich überall und immer, glaube ich, in Gottes Armen fühlen. Man wird mich möglicherweise körperlich zugrunde richten, aber mir weiter nichts anhaben können. Vielleicht werde ich der Verzweiflung anheimfallen und Entbehrungen erdulden müssen, die ich mir in meinen düstersten Phantasien nicht vorstellen kann. Und doch ist das alles belanglos, gemessen an dem Gefühl endloser Weite und Gottesvertrauen und innerer Erlebnisfähigkeit.“

Die junge Krankenschwester schien wieder eingeschlafen zu sein, als ich hinaus in die wärmende Sonne trat. Ich solle unserer Freundin Gesellschaft leisten, hatte die Nonne sanft aber bestimmt gemeint, als ich sie endlich losgelassen hatte. Sie werde uns unterdessen frischen Tee kochen. Und so stand ich plötzlich alleine vor dem Haus, geblendet vom hellen Licht und noch etwas benommen vom Gefühl endloser Weite, in die hinein ich mich soeben habe loslassen dürfen.

Auf der Wiese lag immer noch die zweite Decke, auf der unsere Nonne gelegen hatte. Und plötzlich tat ich etwas, was vor wenigen Minuten noch undenkbar gewesen wäre. Ich legte meine Stola über einen Stuhl, zog meinen Pullover aus, schlüpfte aus meinen Schuhen und liess mich vorsichtig auf der sonnenwarmen Decke nieder. Die lange Hose gab mir dabei eine gewisse Sicherheit, denn ich fühlte mich nackt und verletzlich in meinem weissen Body. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Mut aufbrachte, mich auf den Rücken zu legen, und noch länger, um meine nackten Arme auszubreiten. Als ich es schliesslich wagte, auch noch meine Augen zu schliessen, befiel mich prompt ein Anflug von Panik. Erst nachdem ich mich mehrfach überzeugt hatte, dass es die Sonne war, die mir durch die geschlossenen Lieder strahlte, und nicht ein Scheinwerfer, begann sich die Angst langsam zu legen. Es war ein Kampf mit mir selber. Mein Herz pochte heftig in der Brust und mein Atem war kurz und flach. Dabei hörte ich die Vögel in den Bäumen, atmete den Duft der Wiese und spürte die Sonne auf meinem Körper. Doch ein Teil von mir blieb angespannt, hellwach, alarmiert, in Erwartung irgendeiner Katastrophe, die unweigerlich kommen musste… die immer gekommen war, wenn ich meinte, einmal glücklich sein zu dürfen.

Doch das einzige was kam, war eine sanfte Berührung an meiner Schulter, begleitet vom leisen Schnurren meiner Katze, die sich an mich schmiegte. Meine kleine Tigerin schaffte es schliesslich, dass ich mich langsam zu entspannen begann. Mein Atem wurde ruhiger, der Puls verstummte in den Schläfen und irgendwann spürte ich eine Hand, die sanft aber bestimmt begann, meine zur Faust geballten Finger zu lösen. Ich liess es zu. Es war wunderschön. Aber ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Ich wollte ihren Blick nicht sehen, wenn sie…

Sie hat kein Wort gesagt. Was immer sie gesehen und gedacht haben mag, da war kein besorgter Blick, keine Bestürzung und keine Frage. Irgendwann war die junge Nonne mit dem frischen Tee gekommen und hatte uns auch noch eine Platte mit Käse und Brot herausgebracht. Beim Essen erzählte uns die Krankenschwester schliesslich, dass sie sich entschieden habe, doch noch zu studieren. Nein, nicht Medizin, sondern Psychologie. Daran sei eigentlich ich schuld. Ich hätte ihr Etty Hillesum zu lesen gegeben:

„Es genügt nicht nur, von dir zu predigen, mein Gott, man muss dich in den Herzen der anderen erst aufspüren. Man muss den Weg zu dir im anderen freilegen, mein Gott, und dazu muss man das menschliche Gemüt genau kennen. Man muss ein geschulter Psychologe sein“.

Die letzten Monate seien für sie ein unglaubliches Geschenk gewesen. Sie habe sich mit vielem versöhnen können und eigentlich erst begonnen, zu fragen und zu verstehen, wer sie wirklich sei. Und dafür möchte sie uns beiden von Herzen danken. Die Begegnung und der Austausch mit uns habe ihrem Leben einen neuen Sinn gegeben und in ihr wie bei Etty die Sehnsucht geweckt, „mitzuhelfen, dich, Gott, in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen“.

Natürlich freue ich mich für sie. Und irgendwie macht sie mich stolz, auf sie, aber ein wenig auch auf mich und das bisschen Mutter, das ich für sie sein durfte. Aber als die beiden Frauen heute Abend hinter dem Wegkreuz verschwunden waren, war davon nichts zu spüren. Es ist immer das Gleiche mit mir: Je grösser das erfahrene Glück, desto tiefer die Einsamkeit und der Schmerz. Doch diesmal entwickelte sich aus der Trauer heraus noch ein anderes Gefühl: Wut! Ja, ich bin wütend auf sie, weil sie mich verlässt. Und ich schäme mich dafür. Doch gleichzeitig spüre ich, dass es okay ist, dass es sein darf und dass sie mich verstehen würde.

Sie ist wirklich ein spezielles Mädchen. Sie war immer sehr diskret, hat nie viel gesagt und keine Fragen gestellt, und doch ahne ich, dass sie genau weiss, wie es mir geht. Ich bin überzeugt, es war kein Zufall, dass sie heute ihre Freundin mitgebracht hat.

Und wer weiss, vielleicht ist es auch kein Zufall, dass diese ihre graue Strickjacke über dem Stuhl hat hängen lassen.

***

In der Nacht hatte ich wieder einmal meinen Alptraum, zum ersten Mal seit langem. Meine Mutter zog mir das Gewand an und mein Vater fuhr mich in einem Wagen. Ich wusste was kam, doch ich wehrte mich nicht. Und plötzlich waren sie da. Von überall her schienen sie zu kommen, dunkle Silhouetten, die sich gegen das grelle Licht abzeichneten. Sie trugen elegante Anzüge und lange Gewänder, Schafköpfen und menschlichen Fratzen. Es gab kein Entkommen vor ihren nackten Bäuchen und den schamlosen Klauen. Sie waren überall, vor mir und hinter mir, über mir und in mir. Ich hörte sie lachen, stöhnen und keuchen. Es roch nach Schweiss und Zigarren, nach Alkohol und teurem Parfüm.

Der Stundenschlag meiner Standuhr holte mich schliesslich zurück in die Gegenwart. Es war kurz nach drei Uhr, als ich schweissgebadet aufstand, eine Dusche nahm, alle Fenster öffnete und im Kamin Feuer machte. Eingewickelt in die Strickjacke der jungen Nonne und mit einer Kanne heissem Tee setzte ich mich vor die wärmenden Flammen, während draussen auf der Wiese die Grillen zirpten. Und nachdem ich mich langsam wieder beruhigt hatte, nahm ich das Buch von Etty Hillesum vom Tisch und landete bei den Briefen aus dem Konzentrationslager Westerbork:

„Das Elend ist wirklich gross, und dennoch … quillt es mir immer wieder aus dem Herzen herauf …: Das Leben ist etwas Herrliches und Grosses, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selber erobern müssen. Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen nicht darunter zerbrechen. Und wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Hass, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden. Vielleicht bin ich eine ehrgeizige Frau: Ich möchte ein sehr kleines Wörtchen mitreden.“

Am Morgen nach dem Frühstück zog ich kurzentschlossen meinen neuen Hosenanzug an, nahm meine Stola mit und fuhr mit dem Wagen hinunter in die Stadt. Ich war seit Jahren in keiner Kirche mehr und das Wort „Messe“ an der Tür liess mich einen Moment erschauern. Aber ich fand einen passenden Platz, hinten auf der Seite, mit dem Rücken gegen die Säule. Die Feier war fremd für mich, aber ich fühlte mich erstaunlich gut. Die Sonne schien durch die farbigen Fenster und der Gesang der Schwestern war wunderschön. Doch irgendwann standen alle da und beteten „Vater unser“. Mir wurde kalt bei diesem Wort und als der Priester auch noch von Blut und „Kelch des Heiles“ zu reden begann, musste ich gegen den Impuls käpfen, davonzurennen. Doch dann sah ich das strahlende Gesicht unserer jungen Nonne, als sie ganz in meiner Nähe das Brot verteilte. Sie wirkte so glücklich, so ganz und gar an ihrem Platz. Ich weiss nicht, ob sie mich gesehen hat.

Aber dann habe ich ihn gesehen. Er ging direkt neben meinem Platz vorbei. Er war alt geworden und wirkte gebeugt. Sein Gesicht war noch hagerer als sonst, doch sein Anzug war pefekt wie eh und je. Er ging am Arm einer stattlichen Dame, die wohl seine Frau war. Natürlich hat er mich nicht erkannt. Wie hätte er auch sollen. Aber ich werde dieses Gesicht nie vergessen. Seine Augen, die scharfe Nase und diese dünnen, blassen Lippen. Es ist ein Gesicht von vielen, die mich bis an mein Ende begleiten werden. Und der Geruch. Er braucht immer noch das gleiche Parfüm.

Ich sass wie betäubt an meiner Säule, als ich plötzlich sanft geschüttelt wurde. Die Kirche war fast leer und vor mir stand meine liebe Nonne, die mich besorgt ansah. Sie freue sich total, mich zu sehen, sagte sie, nachdem sie mich fest umarmt hatte. Sie habe mich sofort gesehen, als ich die Kirche betreten habe. Ich gab ihr ihre Jacke zurück und wollte sie zu einem Kaffee einladen. Aber leider hatte sie keine Zeit. Sie werde mich aber besuchen. Versprochen!

Ich wäre nie auf die Idee gekommen, alleine irgendwo einen Kaffee trinken zu gehen. Und doch sass ich plötzlich da, an einem gemütlichen Tisch an der Sonne, mit meiner Blazer Jacke um den Schultern, und genoss den Gesang der Vögel und den Glockenschlag der nahen Kirche. Der Schock sass mir immer noch in den Gliedern, als ich einen Cappuccino bestellte. Doch da war auch eine Energie, die ich so nicht gekannt habe. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass sie ihren Ursprung in einem Gefühl hat, dass mir lange fremd war, das mir unheimlich ist, in dem ich aber eine unglaubliche Kraftquelle zu ahnen beginne.

Ja, liebe Etty, das Elend war wirklich gross. Ich habe gelitten, aber aus irgendeinem Grund bin ich nicht völlig zerbrochen. Zwar bin ich weiss Gott nicht unversehrt, weder körperlich noch seelisch. Doch ich verspreche dir, ich werde nicht verbittern. Aber in einem Punkt folge ich dir nicht: Den Hass und die Wut lasse ich mir nicht nehmen. Von niemandem! Nicht von ihnen, nicht von Gott, und auch nicht von dir! Jetzt noch nicht.

Der Gedanke fühlte sich gut an. Und langsam begann ich die Ärmel meiner Bluse hochzukrempeln, während die Bedienung die Tasse vor mich hinstellte. Sie lächelte freundlich und fragte, ob sie den Sonnenschirm aufspannen solle.

Nein, ich will mich nicht mehr verstecken. Ich will leben, die Sonne auf meiner Haut spüren und ja, vielleicht auch irgendwann einmal ein sehr kleines Wörtchen mitreden.

Zitate aus „Das denkende Herz – die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943“, Rowohlt Taschenbuch
Bild: Original von wooloverslondon.com

Warum sie? XXII (die Krankenschwester)

(Aus den Aufzeichnungen einer jungen Gemeindeschwester)


Sie mag mich nicht.

Ich sah es in ihren Augen, als ich ihr mein Beileid bekundete. Die junge Nonne hatte sich den schwarzen Chormantel um die Schultern gelegt und die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Ein grauer Schatten lag über ihrem Gesicht und ihre Finger wirkten kalt und kraftlos in meiner Hand.

Nur wenige Leute waren zur Beerdigung gekommen. Ein paar Angestellte des Klosters und frühere Bekannte aus der Umgebung. Die alte Nonne hatte nur noch eine Schwester, die aber in Australien lebte. Ihre ältere Schwester hatte sich bereits kurz nach dem Krieg das Leben genommen und ihr jüngerer Bruder war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben.

Ich war mit Abstand die Jüngste am Grab und mein hellblaues Twinset und die weisse Hose bildeten einen grellen Kontrast zu all dem Schwarz, das mich umgab. Ich war mir dessen sehr wohl bewusst. Ja, ich war gekommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Aber trauern, um sie, nein, das werde ich nicht. Ich war hier, stellvertretend für alle anderen, um sie Gottes Urteil zu übergeben.

Zehn Tage ist es her, seit ich sie frühmorgens zusammengesunken über ihrem Schreibtisch gefunden hatte. Ihr Kopf lag auf dem aufgeschlagenen Tagebuch und ihre Füllfeder war ihr aus den Fingern in den Schoss gerollt, wo sich die blaue Tinte in dem weissen Nachthemd ausgebreitet hat. Sie musste stundenlang so dagelegen haben, war aber noch am Leben, als die Sanitäter sie mitgenommen haben.

Ich könne gehen, ich würde hier nicht mehr gebraucht, hatte mich die junge Schwester damals angefaucht, nachdem sie mir das Tagebuch förmlich aus der Hand gerissen hatte. Dabei hatte ich doch nur etwas aufräumen wollen, genauso wie vor ein paar Tagen, als mich auch die Alte plötzlich angeschrien hatte.

Sie hätten kein Recht, mich so zu behandeln, ich mache hier nur meinen Job, hatte ich der Jungen schliesslich geantwortet. Ihre intimen Geheimnisse würden mich nicht interessieren. Und auch sie solle sich gefälligst mehr um ihre Mitschwester sorgen als um deren Tagebuch. Es könne doch einfach nicht sein, dass diese die halbe Nacht bewusstlos in ihrer Scheisse sitze und die frommen Nonnen am Morgen einfach so ihre Psalmen singen gehen, ohne dass eine einzige sich die Mühe mache, nach der Alten zu sehen.

Ich war mindestens so erstaunt über mich wie sie. So hatte wohl noch nie jemand mit ihr geredet, mit ihr, diesem verwöhnten Bankierstöchterchen und der ach so frommen Vorzeigenonne. Ihr entgeisterter Blick tat mir gut, als ich wütend die Klostermauern hinter mir liess, die mir an diesem Morgen besonders düster und erdrückend erschienen.

Zwei Tage später war die Alte zurück. Ein Hirnschlag sei es gewesen, ein kleiner. Sie war halbseitig gelähmt, aber offenbar noch nicht bereit zu sterben. Doch es sei nur eine Frage der Zeit. Die Gemeinde wollte, dass ich mich wieder um sie kümmere. Zum Glück konnte ich meine Chefin überzeugen, jemand anderen zu schicken.

Doch dann kam der Anruf meiner Kollegin: Die Alte wolle mich sehen. Sie wartete im Garten auf mich, an ihrem Lieblingsplatz, wo ich sie jeweils nach dem Mittagessen parkiert hatte. Mir war nicht wohl dabei, doch immerhin blieb mir die Begegnung mit der jungen Supernonne erspart, die sonst um diese Zeit nebenan ihre asiatischen Übungen zu machen pflegte.

Die Gestalt im Rollstuhl wirkte noch gekrümmter als sonst und ihr blasses Gesicht war leicht verzerrt. Nur in ihren Augen funkelte noch etwas Leben, als sie mir unter der gehäkelten Decke hervor eine zittrige Hand entgegenstreckte. Ob ich ihr verzeihen könne, hörte ich sie leise stammeln, während eine Träne über ihre runzligen Wangen glitt.

Natürlich hatte ich ihr verziehen. Sie war ja eigentlich eine liebenswürdige alte Frau und ich hatte mir von Patienten weiss Gott schon anderes anhören müssen, als wegen eines Tagebuches angeschrien zu werden. Mein Lächeln schien sie zu beruhigen und langsam entspannten sich ihre Gesichtszüge. Ich holte mir einen Gartenstuhl und setzte mich nahe zu ihr hin. Meine Finger umschlossen ihre kalten Hände unter der weichen Decke, während sie sichtlich angestrengt versuchte, mir etwas zu sagen. Ich hatte Mühe zu verstehe, was sie meinte, und brauchte eine Weile, bis ich zu ahnen begann, dass sie eigentlich gar nicht mit mir sprach. Und je länger sie redete, desto deutlicher wurden ihre Worte, und desto klarer wurde das Bild, das sich vor mir entfaltete. Fassungslos nahm ich wahr, wie ich immer tiefer hineingezogen wurde in den finsteren Abgrund einer leidenden Seele, in die quälende Unsagbarkeit einer Wahrheit, die mit letzter Verzweiflung darum ringt, doch noch irgendwie Worte zu finde, nachdem sie sich der schreibenden Hand noch verweigert hatte: „Mein Gott, ich habe doch…“

Das Ganze war zu viel für mich. Ich hatte es nicht mehr geschafft, die Nonne in ihr Zimmer zurückzubringen, nachdem sie schliesslich erschöpft aber sichtlich erleichtert in sich zusammengesunken war. Ich wollte nur noch weg hier. Für einen Moment glaubte ich, hinter dem Fenster der jungen Nonne eine Bewegung gesehen zu haben. Soll die sich doch um die Alte kümmern, dachte ich mir noch, als ich in meine Jacke schlüpfte und an der verdutzten Pfortenschwester vorbei ins Freie eilte.

Mir war plötzlich kalt geworden. Auch die heisse Dusche wollte daran nichts ändern. Erst als ich eingehüllt in meine Wolldecke in der Abendsonne auf meinem Balkon das dritte Glas Sliwowitz in mich hineingeschüttet hatte, begann ich langsam wieder klar zu denke. Und plötzlich hatte die Kälte einen Namen: Wut. Ja, verdammt, ich war wütend! Wie konnte sie mir das antun? Mich so zu missbrauchen! Was hatte ich mit ihrer verdammten Vergangenheit zu tun? Wie kam sie dazu, ausgerechnet mir ihr schreckliches Geheimnis zuzumuten? Und wie um alles in der Welt konnte sie glauben, ich würde ihr all das verzeihen?

Am nächsten Morgen hatte mich die Priorin persönlich angerufen, um mir mitzuteilen, dass die Alte in der Nacht friedlich eingeschlafen sei. Der herbeigerufene Priester sei zwar zu spät gekommen für eine letzte Beichte und das Sterbesakrament. Aber sie habe mich am Nachmittag noch mit der Schwester im Garten gesehen. Was immer da geschehen sei, es müsse einen heilsamen Effekt gehabt haben. Offenbar hätte ich der guten Schwester geholfen, endlich loszulassen, und dafür sei sie mir unendlich dankbar.

Einen Moment lang hatte ich geglaubt, mich übergeben zu müssen. Diese Alte hatte sich doch tatsächlich meine Vergebung erschlichen und sich dann einfach so aus dem Staub gemacht. Oh, nein, meine Liebe, so läuft das nicht! Nicht mit mir! Du hattest kein Recht dazu! Und wer bin ich, dass ich das Recht hätte, dir zu verzeihen? Wenn einer dir verzeihen kann, dir und deinesgleichen, dann Gott allein… wenn es ihn denn gibt.

Ich fühlte mich so ohnmächtig und wütend wie damals nach dem Tod meiner Grossmutter. Ob ich ihr verzeihen könne, hatte auch sie mich am Sterbebett gefragt. Und natürlich hatte ich ja gesagt, weil man das in solchen Situationen einfach so sagt. Und irgendwie hätte ich es ja eigentlich auch gewollt, wenn schon nicht ihretwegen so doch wenigsten meinetwegen. Doch als ich wenige Stunden später vor ihrem wunderbar zurechtgemachten Leichnam stand, wurde mir erst richtig bewusst, wie sehr ich sie verachtete, und wie sehr ich sie dafür hasste, mich all die Jahre belogen zu haben.

Eine Woche vor ihrem Tod hatte mich ein entfernter Cousin von ihr in ihr Geheimnis eingeweiht. Meine Grossmutter sei ein Jahre alt gewesen, als sie damals während des Krieges in der Obhut einer böhmischen Bauernfamilie zurückgelassen worden war. Ihre Eltern und ihre drei älteren Geschwister mussten vor den Nazis fliehen und wussten, dass es unmöglich sein würde, sich mit einem Säugling auf Dauer zu verstecken. Offenbar waren sie aber auch so nicht weit gekommen. Nach dem Krieg fand man ihre Namen auf der Liste eines Deportationszuges nach Polen, wo sich ihre Spur verlor. Die Verwandten hätten jahrelang versucht, herauszufinden, was aus der Familie geworden sei und ob jemand von ihnen den Krieg überlebt hat. Nur meine Grossmutter habe sich nie dafür interessiert. Im Gegenteil, als sie alt genug war zu begreifen, was mit ihr geschehen war, habe sie sich nicht nur von ihrer Familie abgewendet, sondern auch stets verleugnet, was sie eigentlich war: eine Jüdin.

In den sechziger Jahren hatte sie schliesslich einen angesehenen deutschen Unternehmer geheiratet und zwanzig Jahre später dessen ganzes Vermögen geerbt. Sie verkehrte in den besten Kreisen und zählte namhafte Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur zu ihren Freunden. Und sie hatte stets dafür gesorgt, dass es mir – zumindest aus materieller Sicht – an nichts gefehlt hat. Eigentlich wäre sie die perfekte Grossmutter gewesen, wenn da nicht immer diese quälende Unversöhntheit gewesen wäre, die nie ausgesprochen wurde und gerade darum unser ganzes Leben begleitet und vergiftet hat.

Sie hatte ihrer Familie nie verziehen, sie damals alleine zurückgelassen zu haben. Und sie hatte den Deutschen nie verziehen, in deren gutbürgerlichen Nachkriegsgesellschaft sie zwar Wohlstand und Ansehen genoss, die sie aber insgeheim immer verachtet hat. Sie hatte ihrem Mann nicht verziehen, dass er sie mit einer Skilehrerin betrogen hat, bevor er einige Tage später in einer Lawine umgekommen war. Und sie hatte mir nie verziehen, dass die Ärzte sich bei meiner Geburt für mich und gegen meine Mutter, entschieden haben. Schliesslich konnte und wollte sie nicht verstehen, dass ich nach meinem brillanten Abitur an einer von ihr bezahlten renommierten Privatschule meinen Studienplatz für Medizin habe sausen lassen, um stattdessen eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen.

Als ich an ihrem Grab gestanden bin und statt der einen gleich mehrere Schaufelt Erde auf ihren Sarg heruntergeworfen habe, war mir bewusst geworden, wie sehr ich selber von dieser bitteren Unversöhntheit besessen bin. Ja, verdammt, wie soll das gehen? Wie soll ich ihr je verzeihen, ausgerechnet ihr, die selber nie verzeihen konnte? Wie soll ich ihr verzeihen, dass sie meine Mutter und mich um unsere wahre Identität betrogen hat?

Wenn ich ehrlich bin, fühlt sich mein ganzes Leben gerade wie eine einzige Revolte an. Mir war sehr wohl bewusst gewesen, wie sehr ich meine Grossmutter enttäusche und kränke, als ich ihr mitgeteilt habe, dass ich nicht studieren werde. Diese Entscheidung war ein Akt der Befreiung für mich und gleichzeitig meine Rache für ihre unausgesprochene Erwartung, für den Tod meiner Mutter gerade stehen zu müssen. Und jetzt, ein Jahr nach ihrem Tod, führt mich ausgerechnet mein Job als Krankenschwester zu dieser alten Nonne, die mir gnadenlos zu verstehen gibt, dass ich mich von nichts befreit habe, von rein gar nichts. Und das Schlimmste ist, dass ich mich selber dafür hasse und dass ich mir selber wohl am wenigsten verzeihen kann, einfach nicht verzeihen zu können.

„Ein „sich hineinsteigern“ in ein sogenanntes tragisches Gefühl. Nicht nur sich unglücklich fühlen, sondern sich immer mehr unglücklich fühlen wollen“.

Fast zwei Tage habe ich gebraucht, bis dieser Satz wieder in mein Bewusstsein durchgedrungen ist. Dabei hatte ich ihn mir schon vor Wochen an den Spiegel gehängt, weil er wie für mich geschrieben scheint. Nur reicht es offenbar nicht, eine Weisheit vor sich zu haben, man muss sie auch sehen wollen. Mein Gott, ich könnte meine ganze Wohnung vollpflastern mit solchen Sätzen von Etty Hillesum. Doch was nützt es mir, wenn ich gerade dann nicht hinschaue, wenn ich sie am meisten brauchen würde?

Vielleicht liegt es daran, dass es ausgerechnet meine Grossmutter war, die mir kurz vor ihrem Tod „Das denkende Herz“ geschenkt hat, die Tagebücher von Etty Hillesum. Beim Räumen ihres Schlafzimmers hatte ich neben ihrem Bett eine Kopie dieses Buches gefunden. Sie muss es mehrfach gelesen haben, denn das Buch war abgenutzt und die Seiten intensiv mit Bleistift markiert worden, besonders da, wo das Buchzeichen eingelegt war:

„Der Friede kann nur dann zum echten Frieden werden, irgendwann später, wenn jedes Individuum den Frieden in sich selbst findet und den Hass gegen die Mitmenschen, gleich welcher Rasse oder welchen Volkes, in sich ausrottet, besiegt und zu etwas verwandelt, das kein Hass mehr ist, sondern auf weite Sicht vielleicht sogar zu Liebe werden könnte“.

Und oben auf der Seite war ein Satz dick unterstrichen:

„Ich glaube an Gott, und ich glaube an die Menschen…“

Ich konnte kaum glauben, dass dieses Buch wirklich meiner Grossmutter gehört haben soll. Aber ihre Haushälterin hatte es mir bestätigt. Sie soll sich in den letzten Monaten ihres Lebens sehr verändert haben. Ich hatte davon nichts mitbekommen. Wir hatten nie mehr wirklich miteinander gesprochen. Ich hatte ihr keine Gelegenheit dazu gegeben.

Und natürlich hatte ich Ettys Tagebüchern erst einmal keine weitere Beachtung geschenkt. Ich hatte das Buch zusammen mit der Kopie meiner Grossmutter in einer Umzugskiste verstaut, bis mir eine Freundin vor drei Monaten begeistert von dieser jungen Jüdin erzählt hat. Und wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich die Lektüre auch nach 50 Seiten wieder aufgegeben. Doch dank ihrem Drängen wurde ich zur entscheidenden Erkenntnis geführt:

„In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“

Von dem Moment an hatte ich mir vorgenommen, auch meinen Brunnen wieder auszugraben, wenn schon nicht für Gott so doch wenigstens für mich. Zweimal hatte ich die Tagebücher schon durchgearbeitet. Und nachdem ich nach dem Tod der alten Nonne endlich aufgehört hatte, mich wieder einmal in mein tragisches Gefühl hineinzusteigern und mich unbedingt unglücklich fühlen zu wollen, habe ich sie das dritte Mal gelesen, und diesmal die Kopie meiner Grossmutter mit all ihren Anmerkungen und Unterstreichungen. Vieles ist mir noch immer fremd und den Gott, vor dem Etty hingekniet ist, habe ich noch immer nicht wirklich gefunden. Doch eines habe ich in diesen Tagen begriffen:

„Ich muss Klarheit erlangen, und ich muss mich selbst akzeptieren. Alles ist schwer in mir, und ich möchte so gerne leicht sein.“

Und dazu gibt es nur einen Weg: Gnadenlos ehrlich sein mit sich selber und sich immer wieder Zeit nehmen, um „Hineinzuhorchen“ in sich selber, denn „… an sich selbst lernt man dann alle guten und bösen Eigenschaften der Menschen kennen. Und man muss zuerst sich selbst die eigenen schlechten Eigenschaften vergeben, wenn man den anderen vergeben will. Das ist wohl das Schwierigste, was ein Mensch lernen muss.“

Denn „ich glaube nicht mehr daran, dass wir an der äusseren Welt etwas verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Inneren gebessert haben“.

Mir ist schon klar: Ich bin noch nicht sehr weit fortgeschritten in diesem Lernprozess. Dafür sitzt mir das Unversöhnte noch zu tief in den Knochen. Aber heute Morgen, als ich mir erstaunlich selbstbewusst die Jacke meines Twinsets um die Schultern legte und mich unter die dunkle Menge der Trauergäste mischte, spürte ich in mir eine ungewohnte Leichtigkeit… und zum ersten Mal so etwas wie Stolz, Jüdin zu sein. Und als ich schliesslich vor der Grube stand und auf den Sarg der alten Nonnen hinunterschaute, fühlte ich einen seltsamen Frieden in mir und die Bereitschaft zu „versuchen, auch die schlimmsten Verbrechen irgendwie zu begreifen und zu ergründen, und (…) immer wieder den nackten, kleinen Menschen aufzuspüren, der aber in den monströsen Ruinen seiner sinnlosen Taten oft nicht mehr zu finden ist.“

Ja, ich glaube, ich kann ihr verzeihen, dass sie mich zur einzigen Erbin ihres Geheimnisses gemacht hat. Mehr kann ich nicht tun, und mehr muss ich auch nicht tun. Und als ich ganz sachte etwas Erde auf ihren Sarg streute, spürte ich zum ersten Mal so etwas wie Mitleid mit meiner Grossmutter. Und um ein Haar wären mir die ersten Tränen gekommen, wenn mich nicht in diesem Moment der kalte Blick der jungen Nonne getroffen hätte.

Ihre Augen lassen mich nicht mehr los. Warum hasst sie mich so? Was habe ich ihr getan, dass sie mir nicht verzeihen kann?

***

„Es tut mir leid“, hörte ich sie leise sagen, während ich nachdenklich den Zucker in meinem Kaffee verrührte. Und als ich den Kopf hob, schaute ich direkt in ihre Augen. Da war keine Kälte mehr, dafür ein flehender Ausdruck, mit einem Hauch von Ängstlichkeit.

Vor drei Tagen hatte ich überraschend einen Brief von ihr bekommen mit Fotokopien der letzten Seiten aus dem Tagebuch unserer alten Nonne. Ob wir uns treffen könnten, im kleinen Kaffee am Marktplatz? Ich war vor ihr da und setzte mich an einen Tisch am Fenster, von dem aus ich den Platz überschauen konnte. Ich war schrecklich aufgeregt und meine Finger spielten nervös mit dem goldenen Davidstern, den ich über meinem Twinset um den Hals trug, ein Geschenk meiner lieben Freundin, nachdem ich mich ihr gegenüber vor ein paar Tagen als Jüdin „geoutet“ hatte.

Für einen Moment war ich völlig in meinen Gedanken und Fragen versunken gewesen, als plötzlich wie aus dem Nichts die junge Schwester vor mir stand. Ohne ihr schwarzes Ordensgewand und den imposanten Schleier war sie mir unter den Menschen auf dem Platz nicht aufgefallen. Sie sah irgendwie müde und zerbrechlich aus, woran auch die etwas abgetragene, graue Kaschmirjacke nichts ändern konnte, die sie wie so oft elegant um ihre Schultern gelegt trug.

Sie sei blind gewesen vor Eifersucht, begann sie schliesslich zu reden, während ihre schlanken Finger die warme Teetasse umschlossen. Die alte Schwester sei für sie von Anfang an wie eine Mutter gewesen. Doch dann war sie zum Pflegefall geworden und plötzlich sei ich aufgetaucht, um ihr all das zu geben, was sie ihr nicht geben konnte. Sie könne nicht sagen warum, aber irgendetwas habe sie spontan irritiert, seit wir uns zum ersten Mal gegenübergestanden sind, damals im Garten mit der alten Schwester im Rollstuhl zwischen uns. Vielleicht habe es daran gelegen, dass wir uns irgendwie ähnlich seien. Meine Haltung, mein Blick, meine Ausstrahlung, und die Weise, wie ich meine Jacke trage… sie habe sofort gespürt, dass ich kaum „nur“ dazu erzogen worden sei, Krankenschwester zu sein.

Und dann seien plötzlich in dem Tagebuch meine dunklen Augen aufgetaucht, ausgerechnet in der Nacht, in der die alte Schwester ihren Zusammenbruch hatte. Sie sei überzeugt gewesen, dass ich die Ursache dafür gewesen war. Immer und immer wieder habe sie versucht zu verstehen, was ihr die Alte in ihrem letzten Tagebucheintrag sagen wollte. Wovor hatte sie solche Angst? Was sollte ich, und was sollte Gott ihr nicht verzeihen können?

Dann habe sie mich und die Schwester im Garten gesehen, am Tag vor ihrem Tod. Der Gedanke, dass es am Ende ausgerechnet ich gewesen sein soll, die ihre letzte Beichte hören durfte – wie es die Priorin formuliert habe –  das habe sie einfach nicht ertragen. Ja, sie habe mich gehasst in diesem Moment. Erst mit etwas Distanz sei ihr langsam bewusst geworden, dass vor Gott alles einen Sinn hat und dass es wohl genau so geschehen sollte.

„Darf ich?“, hielt sie unvermittelt inne, während ihre Finger vorsichtig nach dem Davidstern über meiner Brust fassten. Nachdenklich betrachtete sie das goldene Stück, bevor sie mir direkt in die Augen schaute: „Alles ist Zufall oder nichts ist Zufall“. Für Etty Hillesum mag die Antwort noch nicht so ganz klar gewesen sein, für sie selber aber gebe es eigentlich keinen Zweifel mehr. Sie hoffe einfach und bete für mich, dass ich irgendwann verzeihen könne.

Und sie? Ob sie denn schon wirklich verziehen habe, fragte ich, als sie sich anschickte zu gehen.

Die Frage schien sie zu überraschen und nach kurzem Zögern öffnete sich ihr Mund zu einer Antwort, die es aber nie über ihre Lippen schaffte.

„Bete für mich!“ sagte sie schliesslich, als sie mir zum Abschied die Hand reichte.

Und als sie schon bei der Tür war, drehte sie sich noch einmal um. Ob ich das gewesen sei, der damals ihrer Interessentin das Gebet von Etty Hillesum an die Tür gehängt habe?

Nun war es an mir, überrascht zu sein.

Und zum ersten Mal überhaupt sah ich sie lächeln.

(Zitate aus „Das denkende Herz – die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943“, Rowohlt Taschenbuch)

Warum sie? XXI (eine Zeitzeugin)

(Die letzten Einträge aus dem Tagebuch einer alten Nonne)


„Bist du das auf dem Foto? Wow, du warst ja eine richtige Prinzessin!“

Ja, das bin ich, oder besser, das war ich. Mein Gott, ist das lange her! Seit über siebzig Jahren trage ich dieses Bild mit mir herum. Und bis heute hat es nie jemand zu Gesicht bekommen. Warum nur habe ich es gestern zum ersten Mal seit Jahren wieder hervorgeholt? Und warum habe ich es auf meinem Schreibtisch stehen lassen? Ich wusste doch, dass mein lieber Engel heute wieder meine Zelle putzen würde.  

„Und wer ist der fesche Mann an deiner Hand?“, hörte ich meine junge Mitschwester fragen, die sichtlich fasziniert diese alte Fotographie betrachtete. Die Frage macht mir Angst. All die Jahre habe ich versucht, sie zu verdrängen und stattdessen nur auf Gott zu schauen. Aber die Frage war bei mir geblieben, zusammen mit dem Bild, zuunterst in meiner Schublade.

Mir muss schon klar gewesen sein, dass ihr das Bild auffallen wird. Sie ist ein aufmerksames Mädchen und sie ist ein intelligentes Mädchen. Wahrscheinlich hatte sie schneller begriffen als ich selber, warum das Foto plötzlich dastand. Habe ich nicht genau diese Frage gesucht? Und doch, jetzt, wo sie ausgesprochen im Raum stand, hat sie mich einmal mehr überfordert. Mit zitternden Händen habe ich ihr das Bild abgenommen und zurück in die Schublade gelegt.

Sie ist noch so jung. Mit ihren etwas über dreissig Jahren könnte sie fast meine Urenkelin sein. Wie soll ich ihr erklären, wie das damals war? Wie soll ich ihr erklären, was ich selber nie verstanden habe… oder verstehen wollte?

***

Mein Gott, wie schön sie ist! Ich hätte sie fast nicht erkannt in ihrer dunklen Trainingshose und dem ärmellosen Top. Ich war mir so gewöhnt, sie in Ordensgewand und Schleier zu sehen. Die junge Krankenschwester von der Gemeinde, die für meine Pflege vorbeikommt, hatte mich nach dem Mittagessen in den Garten gebracht. Ich hatte von anderen Schwestern gehört, dass mein Engel dort gelegentlich so asiatische Übungen mache, aber ich konnte mir bis heute nichts darunter vorstellen. Wie kann man nur auf die Idee kommen, in diesen harmonischen Bewegungen den Geist des Bösen zu wittern? Würde ich nicht seit einem Jahr im Rollstuhl sitzen, ich hätte sofort mitgemacht.

Sie war so vertieft in ihr Tun, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Erst als sie in die Sandalen schlüpfte und sich ihre graue Strickjacke um die Schultern legte, entdeckte sie, dass sie nicht alleine war. Strahlend kam sie auf mich zu und unwillkürlich musste ich an das Foto denken. Sie erinnert mich an meine Jugend, an die Leichtigkeit eines jungen Lebens, das ich immer gesucht und doch nie gefunden hatte.

Sie freute sich, dass ich mich freute, und setzte sich spontan neben mich auf eine Bank. Schweigend lauschten wir dem Zwitschern der Vögel und dem Summen der Hummeln und Bienen um uns. Dabei suchte ich innerlich verzweifelt nach den richtigen Worten. Die ganze Nacht hatte ich mit mir gerungen und heute Morgen beim Gottesdienst wurde mir klar: Ich muss es tun! Ich hatte ihre Frage herausgefordert und ich werde ihr antworten… wem, wenn nicht ihr, und wann, wenn nicht jetzt.

„Das Foto von gestern hat mich sehr berührt“, unterbrach sie meine Gedanken, während sie sanft meine Hand fasste. Sie glaube gespürt zu haben, wie wichtig das Bild für mich sei. Umso mehr habe sie sich gefreut über mein Vertrauen, es ihr zu zeigen. Irgendwie kenne sie uns alle nur als Nonnen und daher falle es ihr schwer, sich vorzustellen, dass auch wir ein Leben davor hatten. Es habe ihr so gut getan zu spüren, dass sie nicht die einzige sei, die gelegentlich von der Sehnsucht nach der ersten Liebe gepackt werde. Wobei es ein solches Foto von ihr nicht gäbe. Soweit sei es damals nie gekommen.

Ein wehmütiger Zug lag um ihre Augen, als ihr Blick an mir vorbei in die Vergangenheit schweifte. Sie sei ein Feigling gewesen, meinte sie mit einem leisen Schmunzeln… und er auch! Fast die ganze Schulzeit hätten sie zusammen verbracht. Sie habe ihn insgeheim angehimmelt, und eigentlich sei sie überzeugt, dass sie ihm auch nicht gleichgültig gewesen war. Irgendwie hätten sie wohl beide darauf gewartet, dass der andere den ersten Schritt macht. Sie habe sich damals mit der Überzeugung getröstet, dass sie wohl zu etwas anderem berufen sei. Und als sie eines Tages doch bereit gewesen war, ihr Herz in die Hand zu nehmen, war da plötzlich dieses Gerücht, sie hätte eine Beziehung mit ihrem Schulseelsorger. Nie werde sie den Schmerz in seinem Blick vergessen, und den Zweifel, den sie von da an stets in seinen Augen zu erkennen meinte. Nächtelang habe sie in ihrem Kopf durchgespielt, was sie ihm sagen würde. Doch dazu sei es nie gekommen. Dafür hätte er sie eines Tages überraschend in der Klinik besucht, wo sie wegen einer Depression behandelt wurde. Sie habe sich unglaublich gefreut und ihm fast alles von sich erzählt, nur das Eigentliche nicht.

Eine Träne lief über ihre Wange, als sie mich lächelnd anschaute. Jahre später, als sie sich zum Eintritt ins Kloster vorbereitete, seien sie sich noch einmal begegnet. Zwei Stunden seien sie durch den Stadtpark spaziert, nebeneinander, fast wie auf meinem Bild, nur ohne Händchenhalten. Diesmal habe er von sich erzählt, von seinem Leben und seinen Träumen. Bis heute frage sie sich immer mal wieder, was wohl geschehen wäre, wenn er sie damals…  

Er sei unterdessen verheiratet mit ihrer liebsten Freundin und Vater von zwei wunderbaren Kindern, hörte ich sie schliesslich sagen, nachdem wir eine Weile schweigend dagesessen hatten. Und sie sei Nonne und das sei gut so, meinte sie lachend, denn wer würde sich sonst um mich kümmern.

Ich fühlte mich plötzlich sehr müde und war dankbar, als sie mir ihre Jacke über die zitternden Beine legte und mich zurück in meine Zelle brachte.

***

Er hat sich umgebracht, einfach so, zwei Tage nachdem das Foto von uns entstanden war. Wie um alles in der Welt soll ich das meinem Engel erzählen?

Ich habe es versucht, immer wieder in den letzten Tagen. Doch jedes Mal, wenn ich ihr Lächeln sah und dabei an die freudige Wehmut dachte, mit der sie mir ihre Liebesgeschichte anvertraut hatte, hat mich der Mut verlassen. Darf ich ihr das wirklich zumuten? Soll ich dieses junge Leben wirklich mit den dunklen Schatten meiner Vergangenheit belasten? Habe ich nicht all das hinter mir gelassen, als ich damals mein Leben Gott geweiht habe?

Doch plötzlich ist alles wieder da, lebendiger denn je. Seit Tagen kann ich kaum mehr richtig beten und heute Nacht hatten mich im Traum die Bilder verfolgt: Wie ich verzweifelt durch den Wald renne auf der Suche nach ihm. Ich höre den Schuss, ganz in der Nähe. Ich komme auf eine Lichtung. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, und da, am Fuss der alten Eiche, liegt er, in seiner alten Uniformjacke. Überall ist Blut. Der Lauf der Pistole steckt immer noch in seinem Mund.

Ich war damals 18. Wenige Wochen zuvor hatte ich mit meiner Mutter im Garten gearbeitet, als er plötzlich daherkam. Wir hatten ihn zuerst nicht erkannt. Er sah abgekämpft aus, ausgehungert und um Jahre gealtert. Wir hatten ihn auch darum nicht erkannt, weil wir ihn nicht mehr erwartet hatten. Seine Familie hielt ihn für tot, irgendwo verschollen an der Ostfront.

Ich konnte es kaum glauben: Mein Held war zurück. Seit ich ein kleines Mädchen war, hatte ich für ihn geschwärmt. Vielleicht lag es daran, dass mein Vater schon früh gestorben war und ich mir so sehr einen älteren Bruder gewünscht hätte. Er war acht Jahre älter als ich und hatte natürlich nichts von meiner kindlichen Schwärmerei geahnt. Doch seit er unser Dorf verlassen hatte, habe ich jede Woche eine Kerze für ihn angezündet, bei der Heiligen Muttergottes in unserer Kirche.

Nach seiner Rückkehr hatte er in einem Schuppen neben dem Haus seiner Eltern gewohnt. Er war schweigsam und verschlossen und sass stundenlang alleine in der Kneipe. Immer wieder hörten wir ihn streiten mit seinem Vater. Er solle gefälligst arbeiten. Hier würde niemandem etwas geschenkt. Alle schienen einen weiten Bogen um ihn herum zu machen. Nur ich nicht. Ich brachte ihm zwischendurch ein paar Äpfel, ein Stück frisches Brot oder wessen ich auch immer habhaft werden konnte, ohne dass meine Mutter es merkte.

Ich war gerne bei ihm. Und er schien langsam etwas Vertrauen zu schöpfen. Ich las ihm aus meinem Lieblingsbuch vor und zwischendurch gelang es mir sogar, seinem steinernen Gesicht ein schwaches Lächeln zu entlocken. Langsam führte ich ihn wieder hinaus in die Natur und schliesslich war er sogar bereit, mich zum Picknick mit meiner Familie zu begleiten. Wir feierten den „Tag der Befreiung“. Es war einer der glücklichsten Tage meines Lebens, der Tag, an dem meine Schwester das Foto von uns machte. Zwei Tage später war plötzlich die amerikanische Militärpolizei im Dorf. Meine Mutter wollte mir nicht sagen warum. Doch ich ahnte, was sie suchten, und ich wusste, wo ich ihn finden würde.

Warum, mein Gott, kommt das alles jetzt wieder hoch? Warum nur habe ich vor einer Woche dieses unselige Foto hervorgeholt. Warum jetzt? Was willst DU von mir?

***

Meine Hände zitterten, als ich ihr beim Lesen zusah. Sie stand mit dem Rücken zu mir am Fenster. Was hätte ich dafür gegeben, ihr Gesicht zu sehen. Ich hatte mein Tagebuch auf dem Tisch liegen lassen, mit dem Foto als Buchzeichen. Sie hatte den Wink verstanden. Ein Blick von ihr und ein kurzes Nicken von mir, und die Tür zu den verschütteten Kammern meiner Seele war aufgestossen. Noch nie hatte ich mit jemandem über all das gesprochen. Niemand hatte damals mit irgendjemandem über irgendetwas gesprochen.

Ich hätte es auch heute nicht gekonnt. Die Vorstellung, die Worte auszusprechen, sie in ihrer ganzen Nacktheit laut und deutlich in Raum und Zeit zu stellen und dabei von einem anderen Menschen gehört und angeschaut zu werden, nein, die Vorstellung allein lässt mich erschauern. Und doch spüre ich, dass es sein muss; dass ich endlich das Schweigen durchbrechen muss… und dass ER mich nicht gehen lässt, bevor ich es getan habe. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum ich in meinem Alter noch einigermassen leserlich schreiben kann. 

Es ist eine harte Arbeit. Gestern Nacht, als ich nicht schlafen konnte, hatte ich mich alleine vom Bett in den Rollstuhl gekämpft und dann zwei Stunden am Schreibtisch gesessen. Als ich fertig war und zurück ins Bett wollte, war ich so schwach, dass ich vom Bettrand auf den Boden glitt. Da lag ich nun, hilflos, erschöpft und mit einer brennenden Sehnsucht, geholt zu werden und erlöst zu werden von den Schatten meiner Seele. Doch der weisse Engel, der kam, hatte seltsam graue Flügel. Und nachdem sie mich in ihre Strickjacke gewickelt hatte, holte sie die Priorin und mit vereinten Kräften brachten sie mich zurück in mein irdisches Bett.

In diesem Moment wusste ich, dass es noch nicht zu Ende war. Denn plötzlich sah ich meine Mutter, wie wir zusammen meine ältere Schwester die Treppe hoch tragen und in ihre Kammer bringen. Es war einer dieser Tage gewesen, über den wir nie ein Wort gesprochen haben. Der Tag, an dem der Krieg in unser Dorf kam.

Lange Zeit hatten wir vom Krieg nicht viel mitbekommen. Die Front war weit weg und ausser den Bombergeschwadern, die gelegentlich in grosser Höhe über unsere Köpfe hinweg in Richtung Stadt flogen, kannten wir den Feind nur aus dem Radio und aus den Erzählungen unserer jungen Männer, wenn diese auf Heimaturlaub waren. Einer davon war auch mein Held. Er war der Star unter unseren Hitlerjungen gewesen und der Stolz seines Vaters, als er mit achtzehn der SS beitrat. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich uns zum ersten Mal in seiner schwarzen Uniform präsentierte. Nach Kriegsbeginn hatte er sich freiwillig bei der Waffen-SS gemeldet. Bei seinem ersten Fronturlaub war er voller Begeisterung, an diesem historischen Moment teilhaben zu dürfen. Doch dann wurde er verwundet und danach in eine andere Einheit versetzt. Seine Besuche wurden selten, und wenn er da war, schien er erschöpft und lustlos. Er wurde immer verschlossener und weigerte sich, über seine Einsätze zu sprechen. Die Leute wunderten sich und unter uns Kindern begannen die wildesten Gerüchte zu zirkulieren. Aber offiziell hatte niemand darüber gesprochen, auch meine Schwester nicht, die eines Tages völlig verstört von einem BDM-Einsatz aus der Stadt zurückgekommen war. Ich hatte zufällig mitbekommen, wie meine Mutter ihr verboten hat, mit uns zu reden.

Irgendwann hiess es dann, er sei in russische Gefangenschaft gekommen. Und irgendwann wurden die Ortsnamen in den täglichen Nachrichten immer vertrauter. Dann, als zum ersten Mal aus der Ferne das Donnern der Artillerie zu hören war, begannen die ersten, ihre Häuser zu verlassen. Unsere Mutter hatte damals entschieden zu bleiben. Sie wollte nicht glauben, was man so hörte. Und wohin hätten wir auch fliehen sollen? Unser Haus war alles, was wir hatten. Dann, wie aus dem Nichts, waren sie da, die „Befreier“. Einer von ihnen, fast noch ein Junge, bot mir eine Zigarette an. Als ich ablehnte, packten sie mich uns stiessen mich ins Haus. Sie brachten uns ins Schlafzimmer meiner Mutter, wo sie meinen kleinen Bruder und seine Schwester in den Kleiderschrank sperrten. Ich weiss nicht, wie viele es waren. Ich hatte die Augen geschlossen. Meine Mutter und ich hatten keinen Laut von uns gegeben. Nur meine ältere Schwester hatte geschrien, bis man sie mit dem Halstuch ihrer BDM-Uniform geknebelt hat. Sie war im dritten Monat schwanger gewesen.

Ich weiss nicht, ob ich ohne meinen Engel den Mut gehabt hätte, mich auch diesem Teil meiner Wahrheit zu stellen. Heute Morgen hätte ich es noch nicht gekonnt. Sie hatte sich Zeit gelassen mit lesen. Als sie sich schliesslich umdrehte, hatte sie Tränen in den Augen. Wortlos kniete sie vor mich hin, fasste zärtlich meine zitternden Hände, blickte mich ruhig an und legte dann ihren Kopf in meinen Schoss. Ich weiss nicht, was ich erwartet, befürchtet oder erhofft hatte. Das jedenfalls nicht. Im ersten Moment hat sich mein Körper spontan verkrampft. Doch dann schien eine eigentümliche Wärme von ihr auszugehen, die ganz allmählich meinen Unterleib erfüllte. Und für kurze Zeit gelang es ihr sogar, die Erinnerung an die dunklen Augen meiner jungen Krankenschwester zu verdrängen, an ihren Schmerz und die Trauer, als ich sie heute Morgen in einem panischen Reflex angeschrien hatte. Dabei hatte sie doch nur diskret mein Tagebuch in der Schublade versorgen wollen.

***

Es muss sein. Ich habe keine andere Wahl. Die dunklen Augen lassen mich nicht mehr los. Es ist kurz vor Mitternacht und wieder sitze ich vor meinem Tagebuch, dessen weisse Seiten darauf warten, die ganze Last meiner Wahrheit zu tragen. Meine Hand zittert und beim Gedanken, dass sie es eines Tages lesen würde, wird mir schwindlig vor Angst. Wird sie mir verzeihen können? Wird Gott mir verzeihen können?

„Nazischlampe“ hat mich das blonde Mädchen genannt, das mir vorher im Traum erschienen war. So hatten sie uns damals genannt, immer und immer wieder. Ich hatte das Wort aus meinem Bewusstsein verdrängt. Und mit ihm die Wahrheit, die einfach nicht sein durfte, und die mich gerade darum mein ganzes weiteres Leben nicht losgelassen hat. Dabei lag der Schlüssel dazu die ganze Zeit in meiner Schublade. Aber ich konnte ihn nicht verstehen, weil ich ihn nicht verstehen wollte. 

Mein Vater war Sozialist und Gewerkschafter gewesen. Er war krank und starb in Dachau. Ich hatte damals nicht verstanden, worum es ging, und war einfach nur wütend, dass er uns verlassen hat. Meine Mutter verachtete die Nazis, aber sie war auch eine pragmatische Frau. Sie hatte vier Kinder grosszuziehen und war zu manchen Kompromissen bereit. Und meine ältere Schwester hasste ihren Dienst beim Bund Deutscher Mädchen schon lange, bevor man sich allenthalben über den „Bund Deutscher Matratzen“ lustig machte. Wir hatten nie erfahren, von wem sie damals schwanger war. Nein, sie alle waren keine Nazis. Das war nicht gerecht. Sie konnten nichts dafür.

Ich war an allem Schuld. Ich ganz allein. Ich wollte es einfach nicht sehen. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, wer er wirklich war: Seine Überheblichkeit, mit der er schon als Junge die anderen Kinder behandelte, seinen Fanatismus, mit dem er seinen Vater und uns alle beeindrucken wollte, seine zunehmende Verschlossenheit und die Gerüchte, die man sich über ihn erzählte, und schliesslich all das, womit mich der amerikanische Offizier beim Verhör konfrontiert hat, nachdem man mich neben seiner Leiche aufgegriffen hatte. Nein, der Mann auf den Bildern, die man mir zeigte, war nicht er. Das konnte nicht er sein. Das musste alles ein einziger Irrtum sein, eine Lüge. Es durfte nicht wahr sein, weil sonst auch das andere wahr gewesen wäre, was einfach nicht wahr sein durfte:

Ich hatte es kaum erwarten können, meinen zehnten Geburtstag zu feiern. Endlich bekam auch ich den blauen Rock, die weisse Bluse und das schwarze Halstuch mit dem Lederknoten. Endlich gehörte auch ich zum Jungmädelbund. Ich war so stolz, ein Teil von dem zu sein, was ihm wichtig war. Und ich wollte doch einfach nur, dass er auch stolz auf mich sein konnte.

Eines Tages, es muss im Frühling 1941 oder 1942 gewesen sein, so genau weiss ich das nicht mehr, hatte ich mich bei einer Übung im Wald verlaufen. Statt auf meine Kameradinnen war ich schliesslich auf drei Kinder gestossen, ein Mädchen und zwei kleine Knaben, die sich ängstlich an den Rock ihrer Schwester klammerten. Das Mädchen war etwa so alt wie ich und hatte unter ihrem Kopftuch lange, schwarz gekrauste Haare. Ihre dunklen Augen schauten mich mit einem seltsam flehenden Ausdruck an. Sie rief mir etwas zu, das ich nicht verstanden habe, bevor sie die Knaben an der Hand fasste und davoneilte. Ich war ihnen heimlich gefolgt bis zu einem Bauernhof am Waldrand, wo sie von einer aufgeregten Frau mit einem blauen Kopftuch erwartet und eiligst in einen Schuppen befördert wurden.

Ich hatte nicht gewusst, wem dieser Hof gehört hat. Erst als der Lastwagen mit der SS-Eskorte durch unser Dorf donnerte, erkannte ich die alten Freunde meines Vaters. Neben ihnen auf der Ladefläche sass die Frau mit dem blauen Kopftuch, die einen Mann mit einer blutenden Kopfwunde im Arm hielt. Der kleinere der beiden Knaben winkte mir strahlend zu. Sein Bruder klammerte sich an seine Schwester, deren traurige Augen mich auch dann noch nicht losgelassen hatten, als der Lastwagen schon längst um die Ecke verschwunden war.

Mein Gott, ich habe doch…

(Bild: Andrew Garfield und Claire Foy im Film Breath, deutsch: Solange ich atme)

Warum sie? XX (die Interessentin)

(Tagebuch eines zweiwöchigen Klosteraufenthaltes)

Sonntag, Ankunft

Da bin ich nun also im Kloster. Wer hätte das gedacht?

Zwei Wochen werde ich hier mitleben. Das war der Vorschlag der Priorin, als ich vor einem Monat für ein Gespräch bei ihr war. Eigentlich wollte ich damals nur ganz unverbindlich ein paar Fragen stellen, und nun sitze ich hier in einer Klosterzelle vor einem leeren Tagebuch. Ich soll darin aufschreiben, was mich bewegt, meine Gefühle, meine Stimmungen, all das, was in meiner Seele vorgeht, hat die junge Schwester gesagt, die mich in diesen Tagen begleiten soll. Dabei ist es doch vor allem mein Kopf, indem sich all die tausend Gedanken und Fragen bewegen, mit denen ich heute Morgen angereist bin.

Das Highlight dieses Tages waren allerdings tatsächlich Gefühle, wenn auch weniger meine eigenen als diejenigen der eleganten Dame mit den silbergrauen Haaren und dem schwarzen Twinset, die während des Festgottesdienstes zur silbernen Profess der Priorin neben mir sass. Sie war offensichtlich sehr bewegt und wischte sich immer wieder die Tränen aus dem Gesicht. Nach dem Gottesdienst kam sie zu mir, um sich zu entschuldigen. Ich müsse mir keine Sorgen machen, sie sei einfach gerade etwas überwältigt von ihren Gefühlen. Sie habe gehört, dass ich ein paar Tage im Kloster bleibe. Sie freue sich für mich und wünsche mir eine gute Unterscheidung der Geister.

Die Lady sei eine reformierte Pastorin, hat mir meine Begleiterin später erzählt. Sie habe zusammen mit der Priorin das Noviziat gemacht. Ich hatte nicht gewagt zu fragen, was damals geschehen war, und auch nicht, warum sie heute trotzdem zur Heiligen Kommunion gegangen ist. Diese Frau fasziniert mich. Irgendwie erinnert sie mich an meine vermeintliche Schwiegermutter. Was hat sie nur gemeint mit „Unterscheidung der Geister“?

Montag, 1. Tag

Ich kann es immer noch nicht glauben: Ausgerechnet mein „Stern“ ist meine persönliche Begleiterin in diesen Tagen. Kaum ein halbes Jahr ist es her, seit ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Es war an diesem katholischen Jugendfestival, zu dem mich eine Kollegin mitgeschleppt hatte. Ich weiss bis heute nicht, wie sie das geschafft hat. Kurz vorher hatte mein Freund Schluss gemacht. Ich war am Boden zerstört und hatte überhaupt keinen Bock, andere Leute zu sehen, schon gar nicht gottbegeisterte Jugendliche mit ihren frommen Worship-Schnulzen. Eine Flasche Wein, eine Packung Chips, meine kuschlige Wolljacke und Netflix bis zur Erschöpfung war alles, was meine Tage nach der Arbeit noch halbwegs erträglich machte.

Doch dann stand da plötzlich diese Supernonne auf der Bühne. Sie erzählte von ihrer ersten Verliebtheit, von ihrer Karriere als Bankerin und von ihren Depressionen. Vor allem aber sprach sie von Gott, diesem leuchtenden Stern, der ihr durch alle Krisen hindurch die Richtung gewiesen hat. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, war sie zu meinem Stern geworden. Im Licht ihres strahlenden Lächelns kam mir mein Leben plötzlich so schäbig vor, so leer und so bestimmt von dunklen Gedanken und sinnlichen Befriedigungen. Es war, als ob sie im Chaos meiner Gefühle die Stimme der Vernunft geweckt hätte. Und jetzt bin ich hier, mit ihr als Begleiterin, was für ein Geschenk!  

Dienstag, 2. Tag

„Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“ (Ps 18.30). Genauso hatte ich mich gefühlt heute Morgen beim Frühstück. Die Sonne schien in unseren Speisesaal und durch das offene Fenster hörte ich den Gesang der Vögel im Garten. Es war fast wie im Paradies, wenn da nicht plötzlich diese alte Schwester im Rollstuhl gewesen wäre, die sich an ihrem Kaffee verschluckt hat. Ihr endloses Husten machte der Stille ein Ende, und irgendwie auch meiner Stimmung. Als ich wenig später im Gottesdienst sass und die mehrheitlich betagten Schwestern betrachtete, wurde mir mulmig zumute. Ich arbeite zwar als Physiotherapeutin in einem Altersheim, aber sollte ich wirklich auch mein ganzes Leben mit alten Menschen verbringen? Und jeden Tag um halb sechs Uhr morgens zur Laudes in der Kirche sitzen? Und bei allem immer dieses schwarze Gewand tragen, ein Leben lang? Und was würden meine Eltern dazu sagen, und meine Freunde?

Die Fragen liessen mich nicht mehr los, bis ich am Nachmittag meiner Begleiterin davon erzählte. Warum ich denn hier sei, wollte sie wissen. Na ja, um das Klosterleben kennenzulernen und endlich etwas Zeit für Gott zu haben. Ob jemand von mir verlangt hätte, Nonne zu werden? Nein. Wieso ich mich dann also von Fragen irritieren lassen, die keiner gestellt hat? Und ob ich Lust hätte, mit ihr Joggen zu gehen?  Drei simple Fragen, ein entwaffnendes Lächeln und eine halbe Stunde rennen zu zweit am Flussufer hatten gereicht, um in mir die Überzeugung zurückzubringen, mit Gott Mauern zu überspringen.

Mittwoch, 3. Tag

Wie habe ich das verdient? Drei Tage bin ich erst da, und doch fühle ich mich hier wie zuhause. Ich habe keine Mühe, um fünf Uhr aufzustehen, die Psalmen in den Gebetszeiten berühren mein Herz und der Gesang der Schwestern ist einfach himmlisch. All die Fragen von gestern lassen mich nur noch schmunzeln. Am Nachmittag haben wir die Zelle der alten Schwester im Rollstuhl geputzt. Was für eine humorvolle und herzensgute Frau! Sie hat mich – mit einem Augenzwinkern – vor meiner Begleiterin gewarnt. Ich solle mich nicht von diesem Engel verzaubern lassen, sondern von Gott. Mein Gott, was haben wir drei gelacht! Abends nach der Komplet erzählte mir dann die junge Schwester bei einer Tasse Tee von ihrer Berufungserfahrung. Acht Jahre als alt sei sie gewesen, an Mariä Himmelfahrt, dem Tag des geweihten Lebens, als Jesus ihr gesagt habe, wie sehr er sie liebe. Als „Beweis“ seiner Liebe habe er damals ihre Gebete erhört und ihrer verehrten Hauslehrerin den Freund zurückgebracht. Ich musste weinen vor Freude, als ich später noch alleine in der dunklen Klosterkirche sass und Gott für mein Glück dankte. Ja, Herr, du machst meine Finsternis hell! Ps 18,29

Donnerstag, 4. Tag

Was für ein Scheisstag! Was soll das? Ich verstehe gar nichts mehr. Mein Glück von gestern ist wie weggeblasen, als ob es nur ein Trugbild gewesen wäre. Ich kann nicht mehr beten. Gott ist weg und auch mein Stern ist weg. Sie war heute bei ihrem geistlichen Begleiter und heute Abend hat die Gemeinschaft eine Versammlung. Ich fühle mich so allein. Was mache ich überhaupt hier?

Freitag, 5. Tag

Natürlich dürfe ich jederzeit gehen, sagte meine Begleiterin, als ich heute Morgen nach dem Frühstück verzweifelt bei ihr geklopft habe. Sie sass ruhig da und hörte mir geduldig zu, während ich unter Tränen mein Elend beklagte. Sie habe den Eindruck, ich sei in einem Zustand, in dem ich besser keine Enscheidung treffen sollte, meinte sie schliesslich und erinnerte mich an die Freude und die guten Gründe, die ich noch vor zwei Tagen hatte. Entscheidungen, die man bei Licht getroffen hat, sollte man nie bei Dunkelheit ändern.

Okay, aber was ist, wenn die Dunkelheit kein Ende mehr nimmt? Den ganzen Tag habe ich mich bemüht, aber nichts hat sich geändert. Es ist, als ob man mir den Stecker gezogen hat. Die Stille im Kloster nimmt mir fast den Atem. Und dabei ist es erst kurz nach 21 Uhr. Nicht einmal meine warme Wolljacke will mir mehr Trost spenden, und dabei ist es noch viel zu früh für mich, um Schlafen zu gehen. Aber nein, ich habe mich entschieden: wer oder was auch immer mir hier das Leben zur Hölle macht, ich lasse mich nicht unterkriegen!

Samstag, 6. Tag

Irgendwie bin ich schon etwas stolz auf mich. Nachdem ich gesten Morgen noch die Laudes geschwänzt hatte, habe ich mich heute pünktlich aus dem Bett gekämpft. Das ganze Tagesprogramm habe ich abgesessen und sogar für mich alleine noch einen Rosenkranz gebetet. Ich spüre zwar immer noch nichts von Gott, aber ich tue ihm den Gefallen nicht, loszulassen.

Eine kleine Belohnung habe ich dennoch bekommen. Nachdem es mir gelungen war, mit einer Willenleistung nach einer kurzen Siesta wieder unter meiner Decke hervorzukriechen, bin ich im Garten zufällig auf meine junge Begleiterin gestossen, die barfuss auf der Wiese stand und völlig vertieft war in eine Abfolge seltsamer Bewegungen. Fasziniert betrachtete ich ihre schlanke Gestalt in der dunklen Trainingshose und dem schwarzen Sporttop. Sie wirkte so frei und natürlich in ihren Bewegungen, von den Zehen bis in die Fingerspitzen erfüllt von ihrem Tun. Das sei Shibashi, erklärte sie mir strahlend. Morgen nach dem Mittagessen wird sie mir zeigen, wie das geht. Immerhin eine kleine Freude und ein Grund, noch etwas zu bleiben.

Sonntag, 7. Tag

Immer noch nichts, keine Freude, kein Feuer, nicht einmal mehr Glut. Seit Tagen haben wir das schönste Frühlingswetter, und doch fühle ich mich so leblos, wie abgelöscht. Umso erstaunlicher, dass ich doch irgendwie die Kraft finde, am Morgen aufzustehen, mit den Schwestern zu beten, und vor allem zu bleiben. Ist es einfach meine Sturheit, die mir meine Mutter schon als Kind vorgehalten hat? Wem will ich hier etwas beweisen? Oder willst vielleicht DU mir etwas beweisen, Gott?

Immerhin, das Shibashi hat meinen Tag gerettet. Mein Stern hat gestrahlt vor Freude, als sie mir die verschiedenen Bewegungen und „Bilder“ beibrachte. 18 gibt es davon, 9 kann ich schon. Ich weiss zwar nicht, was diese asiatischen Übungen mit Gebet zu tun haben sollen, aber es war einfach traumhaft, gemeinsam mit ihr barfuss im frischen Gras zu „tanzen“, umgeben vom betörenden Duft der Hyazinthen und dem Gesang der Vögel. Ja, Gott, das hast DU davon. Wenn DU mir schon beim Gebet keinen Trost schenken möchtest, dann hole ich ihn mir eben anderswo.

Montag, 8. Tag

Heute sind meine Freundinnen in Urlaub gefahren. Sie hätten noch ein Bett für mich, hatten sie mir vor einer Woche geschrieben, bevor ich mein Handy endgültig abgestellt hatte. Die beiden fehlen mir. Und mir fehlt die Freiheit, am Morgen auszuschlafen, stundenlang alleine durch die Wälder zu wandern und abends mit den Mädels bei einer Flasche Wein und Netflix abzuhängen. Stattdessen hocke ich hier und warte vergeblich auf den Gott, mit dem ich noch vor ein paar Tagen Mauern überspringen wollte.

Immerhin bin ich nicht mehr alleine mit meiner trostlosen Laune. Auch mein Stern erschien heute Morgen ziemlich blass. Sie habe schlecht geschlafen und sei mit dem falschen Fuss aufgestanden, meinte sie mit einem müden Lächeln, als wir uns wieder zum Shibashi trafen. Ihr formloser, langer Wollpullover passte dabei perfekt zu den grauen Wolken, die über Nacht aufgezogen waren. Das änderte aber nichts an der Geduld, mit der sie mich in ihre Kunst einführte. Dabei war meinem geschulten Blick natürlich nicht entgangen, wie verspannt ihre Schultern waren. Aber ich hätte nie zu träume gewagt, dass sie sich tatsächlich von mir massieren lassen würde.

Es ist schon erstaunlich, wie viel Kraft wir manchmal aus der Schwäche eines anderen ziehen. Plötzlich war ich die Aktive und sie die Empfangende. Ich genoss das Gefühl ihrer Schultern unter der Wolle des Pullovers, die Zartheit ihrer Haut am Hals und den Anblick ihrer gekräuselten Haare im Nacken. Sie sass vor mir wie eine schnurrende Katze und ich konnte förmlich spüren, wie sie sich unter meinen Händen entspannte. Was für ein Vertrauen, und was für ein schöner Moment der Intimität… bis wir fast gleichzeitig die dunkle Gestalt der Priorin entdeckten, die uns vom Fenster ihres Büros aus beobachtete.

Dienstag, 9. Tag

Ich habe schlecht geschlafen und von der Priorin geträumt. Aber ansonsten hat sich nichts verändert, ausser dass es begonnen hat zu regnen und dass wir keine Lust auf Shibashi hatten. Dass wir uns dennoch überwunden haben, joggen zu gehen, lag wohl vor allem daran, dass wir beide einen Moment Freiheit vom Kloster gesucht haben. Denn nach wenigen Minuten sassen wir bereits im Schutz eines Bootsunterstandes am Flussufer.

Sie müsse sich wieder zusammenreissen. Sie bete nicht mehr richtig und habe ihre Disziplin verloren, hörte ich sie sagen, während sie nachdenklich Kieselsteine ins Wasser warf. Das könne sie sich schenken, gab ich resigniert zurück. Ich würde mich seit Tagen bemühen und nichts hätte sich verändert. Gott lasse sich nicht kaufen. Ich sei eine gute Schülerin, meinte sie darauf lachend. Die Nähe Gottes könne ich mir tatsächlich durch nichts erwirken. Aber ich kann das Meine dazu beitragen, mich nicht selber zu entfernen. Und vielleicht sei das ja gerade auch der Sinn von so trostlosen Zeiten: dass wir uns bewusst werden, dass alles ein Geschenk ist. Und schliesslich würde ich ja auch von meinem Freund erwarten, dass er mir vertraut und an meine Liebe glaubt, auch wenn ich es ihm nicht jeden Tag sage. „Klugscheisser“, habe ich ihr an den Kopf geworfen. Was wisse sie denn schon von Liebe?

Es tat gut, einen Moment lang einfach so mit ihr herumzualbern. Wenn da nur nicht dieses kurze Aufflackern von Schmerz in ihrem Blick gewesen wäre. Irgendwie lässt mich das nicht mehr los. Ich wollte ihr noch etwas sagen nach der Komplet. Aber dann war sie weg. Und morgen sei sie auch weg, den ganzen Tag. Einmal mehr sitze ich alleine da mit meinen Gefühlen. Und wo bist DU?

Mittwoch, 10. Tag

Heute Morgen nach dem Frühstück fand ich einen Zettel an meiner Tür mit einem Gebet von Etty Hillesum: „Gott, schenke mir ab und zu einen kurzen Augenblick der Ruhe. Ich werde auch nicht mehr in aller Einfalt glauben, dass der Friede, falls er über mich kommt, ewig sei, ich nehme auch die Unruhe und den Kampf auf mich, die wieder danach kommen“.

Wer immer den Zettel geschrieben hat, er kam zu spät. Zum ersten Mal seit Tagen spürte ich beim Morgengebet wieder so etwas wie Frieden und Ruhe, und dies, obwohl ich einmal mehr wirres Zeug geträumt hatte. Doch da ich mich auf keinen Fall der „Einfalt“ schuldig machen wollte, genoss ich jede Stunde des Tages, indem ich mir vornahm, neue Kräfte zu sammeln im Blick auf meinen nächsten Durchhänger. Ich war schon etwas stolz auf mich, doch als ich heute Abend meiner Begleiterin danken wollte, schaute mich diese nur ratlos an. Sie wisse nichts von einem Zettel.

Donnerstag, 11. Tag

Was für ein Glück: Der „kurze Augenblick der Ruhe“ dauert an. Und was für ein sagenhafter Moment heute Nachmittag, als ich nach dem Shibashi eingehüllt in meine Wolljacke, mit meinem Buch und einer Tasse heissem Tee am Fenster meiner Zelle sass und plötzlich die Sonne durch die Wolken brach. Wie wenig es doch braucht, um die Welt in ein anderes Licht zu tauchen! Wo waren sie geblieben, all meine düsteren Gedanken der letzten Tage, meine Antriebslosigkeit, meine Ohnmacht und diese Leere und Trauer, die meine Gebete bestimmten? Und doch waren sie real. Genauso real wie mein heutiges Glück. So bin ich! Diese Einsicht war irgendwie demütigend. Doch gleichzeitig spürte ich, dass es gut ist, wie ich bin, und dass ich so sein darf und dass ich so geliebt bin, wie ich bin.

Meine Begleiterin musste weinen vor Freude, als ich ihr abends davon erzählte. Und ich musste weinen, weil sie weinte. In meiner Freude habe ich sie spontan umarmt. Aber nach einem kurzen Zögern hat sie mich sanft aber bestimmt zurückgestossen. Ich solle Gott danken, nicht ihr, meinte sie  mit einem sanften Lächeln. Und ich solle mich gut daran erinnern, wenn die Trostlosigkeit wiederkommt. Die Gelegenheit, das einzuüben, hatte sie mir damit gleich selber gegeben.

Freitag, 12. Tag

Wieder eine Nacht voller wilder Träume: Erst war ich beim Shibashi, aber ich konnte die Bilder nicht mehr. Dann bin ich verzweifelt durch das Kloster gerannt und habe den Ausgang nicht gefunden. Und schliesslich hatte ich Sex mit meinem Ex-Freund, als plötzlich die schwarze Gestalt der Priorin über uns auftauchte. Ich war völlig verschwitzt, als der Wecker läutete.

Warum sie mich zurückgestossen habe, fragte ich meine Begleiterin nach dem Frühstück? Es sei doch nur eine Umarmung gewesen. Sie muss meine Enttäuschung und Wut gespürt haben, liess sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen. Ich hätte sicher Recht und sie wolle mir auch nichts unterstellen, aber manchmal sei es im Leben einfach wichtig, realistisch zu sein und gewisse Versuchungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. „Wehret den Anfängen“, meinte sie, indem sie mich eindringlich ansah. Es gebe Dynamiken, die fressen einem mit Haut und Haar, wenn man ihnen nur den kleinen Finger hinhält.

Heute hatte ich keine Lust auf Shibashi. Stattdessen sass ich in meiner Zelle und musste plötzlich an übermorgen denken. Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, mein Handy bis Sonntag nicht zu brauchen, und eigentlich wollte ich auch nur kurz nachschauen, wann mein Zug fahren wird. Doch dann war da diese Nachricht von meiner Kollegin, dass eine meiner Patientinnen vor einer Woche gestorben sei. Und als ich ihr antworten wollte, stiess ich auf eine Mail von der Mutter meines Ex. Es täte ihr leid, was damals geschehen sei. Ihr Mann hätte kein Recht gehabt, einen Keil zwischen mich und ihren Sohn zu treiben. Sie würde sich sehr freuen, mich wiederzusehen… und ihr Sohn auch.

Das würde ihr so passen, nachdem sie damals einfach geschwiegen hatte. Oh nein, ich habe mein Lektion verstanden. Wer bin ich denn – eine simple Physiotherapeutin – um vor dieser ehrwürdigen Adelsfamilie bestehen zu wollen. Ich war naiv und blind gewesen, aber ich werde mich nicht ein zweites Mal zurückweisen lassen. Die Wut und der Schmerz haben mich den ganzen restlichen Tag begleitet. Ich hatte mir vorgenommen, noch heute Nacht zurückzuschreiben. Aber nachdem ich drei Entwürfe gelöscht hatte, gab ich auf und flüchtete mich stattdessen ins Internet. Ich wusste, wo ich meinen Trost finden würde, und einmal mehr hatte ich mit Erfolg verdrängt, wie leer und frustriert ich mich danach jeweils fühle. Ich ekle mich vor mir selber, und auch die heisse Dusche hat daran nichts geändert. Ich sehe vor mir den traurigen Blick meiner Nonnen, als ich heute Abend demonstrativ einen weiten Bogen um sie herum gemacht hatte. Mein Handy ist wieder ausgeschaltet, aber ich weiss noch immer nicht, wann mein Zug fährt.

Samstag, 13. Tag

Ich fühlte mich beschissen. Wie konnte ich diesen heiligen Ort nur so entweihen? Den ganzen Tag hätte ich mich am liebsten verkrochen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie es alle wissen. Ich schämte mich und hasste sie gleichzeitig dafür. Und dann war da auch noch dieser Traum: Wir machten Shibashi und ich habe sie massiert. Doch dann war sie plötzlich verschwunden. Ich habe sie überall gesucht. Dann war da auf einmal der Vater meines Ex. Er versperrte mir den Weg, aber ich konnte mich losreissen. Schliesslich fand ich sie in meiner Zelle. Sie war halb nackt und irgendwie geknebelt. Und als ich mich über sie beugte, war da wieder die schwarze Gestalt der Priorin…

Noch verstörender als der Traum war das, was er mit mir machte. Wie konnte das sein? Was war nur mit mir los? War das wirklich ich? Ich schaffte es nicht mehr, ihr in die Augen zu schauen. Den ganzen Nachmittag lag ich heulend auf dem Bett und nachdem ich nachts nicht einschlafen konnte, nahm ich schliesslich meine Wolljacke und setzte mich in die Kirche. Ich fühlte mich leer und konnte nicht beten. Und da war sie wieder, diese Frage: Warum bist du hier? Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Weil ich meinem Stern gefolgt bin.

Sie trug ein weisses Nachthemd und hatte sich einen grauen Cardigan um die Schultern gelegt, als ich sie schliesslich aus dem Bett holte. Ich solle im Gesprächszimmer auf sie warten, meinte sie mit verschlafenem Blick. Und als sie ein paar Minuten später mit zwei Tassen Tee daher kam, trug sie wieder ihr schwarzes Ordensgewand. Ich habe ihr die ganze Wahrheit gesagt: dass ich mich von einem Engel habe verzaubern lassen statt von Gott; dass ich wohl in sie verliebt sei… und dass ich gestern Nacht in meiner Zelle masturbiert habe.

Die Turmuhr schlug Mitternacht, während wir schweigend dasassen. Und als ich mich endlich überwinden konnte, den Kopf zu heben, schaute ich direkt in ihre strahlend feuchten Augen. Sie sei so froh für mich, dass ich den Mut hatte zu reden. Manch vermeintliche Wahrheit würde sich bei Licht besehen relativieren und manche Knoten würden sich von selbst lösen, wenn man nur fähig sei, sie klar und laut zu benennen. Und bevor wir uns kurz darauf im Gang vor ihrer Zelle trennten, war sie es, die mich spontan in den Arm nahm.

Noch nie fühlte ich mich so leicht und frei wie heute Nacht in meinem kleinen Zimmer. Die Stille und Einsamkeit sind so erfüllt von Wärme und Trost, dass ich meine Jacke gar nicht vermisse, die ich im Gesprächszimmer vergessen habe. Eine tiefe Dankbarkeit erfüllt mich, wenn ich an die vergangenen Tage denke. Und gleichzeitig freue ich mich auf mein Zuhause, meine Arbeit und die alten Menschen im Heim. Und ja, ich werde seiner Mutter schreiben… gleich morgen Abend.

Sonntag, 14. Tag

Unser Abschied war kurz und herzlich. Sie sah majestätisch aus in ihrem schwarzen Gewand, inmitten der Menschen auf dem Bahnsteig. Ja, sie fasziniert mich und irgendwie mag ich sie sehr. Doch mir war klar geworden, dass ich selber wohl nie so ein Gewand tragen werde. Ich habe es ihr gesagt, und wenn sie enttäuscht gewesen sein sollte, so hat sie es mich nicht merken lassen.

Sie spüre bei mir eine grosse Sehnsucht nach Leben, Sinn und Liebe, hat sie gemeint, während sie mir einen Zettel in die Hand drückte. Doch wir hätten alle unsere Schwächen und Verletzungen, und darum müssten wir aufpassen, dass unsere Sehnsucht nicht genau an diesen Stellen in falsche Bahnen geleitet wird. Aber sie mache sich meinetwegen keine Sorgen. Ich hätte eine sensible Wahrnehmung, ich sei ehrlich mit mir selber und das sei eine hervorragende Voraussetzung für die Unterscheidung der Geister. Und falls ich wissen möchte, was es damit auf sich hat: Auf dem Zettel stehe Name und Adresse ihres geistlichen Begleiters.

Ich weiss nicht genau, was sie damit gemeint hat, und hatte auch keine Zeit mehr zu fragen. Der Schaffner hatte mich gedrängt einzusteigen und bevor die Tür sich endgültig zwischen uns schob, konnte ich ihr gerade noch zurufen, sie solle doch bitte für meinen Freund beten.

Der Name auf dem Zettel sagt mir nichts, und irgendwann werde ich sicher nachschauen, was dieses SJ dahinter bedeutet. Aber für den Moment liegt das Papier erst mal als Buchzeichen in meiner Bibel, bei Psalm 18:

„Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen.“