(aus dem Tagebuch eines Sängers über Schuberts Winterreise und verlorene Liebe)

Samstag, 1. Januar
Mein Gott, was für eine Stimme!
Diese Leichtigkeit und Klarheit, diese Wärme und Intensität!
Das kann doch einfach nicht sein! Und doch, ich würde sie auch heute noch unter Tausenden wiedererkennen. Stundenlang hatte ich ihr damals beim Üben zugehört. Es war die Stimme meines Lebens. Die Stimme meiner Liebe. SIE war einzigartig.
Doch SIE ist tot. Seit fünfzehn Jahren schon.
Wer also hat da gesungen, heute Morgen in der Klosterkirche, ausgerechnet diese Bachkantate, und ausgerechnet an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal seit Jahren wieder meine Eltern zum Gottesdienst begleitet habe?
Seitdem ich vor acht Jahren geheiratet hatte, war ich an den Festtagen nie mehr zuhause gewesen. Entweder hatte ich irgendwo gesungen oder wir waren im Ferienhaus meiner Schwiegereltern in den Bergen. Ich hatte unsere alte Klosterkirche nie besonders gemocht. Als Kind kam sie mir düster und bedrückend vor, und der Weihrauch, den die Nonnen so lieben, tut meiner Stimme nicht gut.
Entsprechend lustlos sass ich heute Morgen zwischen meinen Eltern in der Kirchenbank und haderte mit meinem Schicksal. Doch dann ertönte aus dem dunklen Gewölbe über uns diese Stimme: „Jauchzet Gott in allen Landen!“ Der Schock fuhr mir durch Mark und Bein. Wie gelähmt sass ich da und kämpfte verzweifelt gegen die Tränen. Irgendwann spürte ich, wie die behandschuhten Finger meiner Mutter sanft meine Hand umschlossen. Ich wagte nicht, sie anzuschauen.
Von unserem Platz aus konnten wir die Sängerin auf der Empore nicht sehen. Erst als das letzte „Halleluja“ verklungen war und die Leute zu applaudieren begannen, eilte ich nach vorne. Aber ich kam zu spät. Nur das Gesicht der Priorin schaute noch kurz über die Balustrade. Meine Mutter meinte, sie hätte die Orgel gespielt.
Als ich nach dem Mittagessen im Kloster angerufen habe, konnte mir die alte Schwester an der Pforte auch nicht weiterhelfen. Ja, da sei eine junge Frau als Gast gewesen. Schön habe sie gesungen, nicht wahr? Und nein, sie wissen nicht, wie sie heisse. Die Dame sei vor einer Stunde abgereist.
Den halben Nachmittag habe ich mich wie besessen durch das Internet gegoogelt: Nur zwei Sopranistinnen haben in den letzten Monaten diese fabelhafte Bachkantate in Konzerten gesungen. Sollte tatsächlich eine dieser beiden heute Morgen… ausgerechnet bei uns… doch wenn ja, welche?
Die eine, die mit dem italienischen Namen, ist noch jung, 28 Jahre. Sie hatte in Basel studiert und vor einem Monat in einem grossen Konzert gesungen. Die Kritiken waren gut aber nicht überschwänglich, was irgendwie auch ihrer Erscheinung entspricht. Sie ist ganz hübsch mit ihren dunklen Haaren, aber ihre zierliche Gestalt passt einfach nicht zu dieser Stimme. Und die wenigen Aufnahmen auf ihrem YouTube-Kanal auch nicht wirklich.
Ganz anders die zweite Kandidatin, eine gebürtige Tschechin, 40 Jahre alt, eine stattliche Dame mit vollem, dunkelblondem Haar. Sie hat die Figur meiner Frau, vielleicht noch etwas kräftiger. Ihr YouTube-Kanal ist voll mit tollen Aufnahmen, aber fast alles Opern. Schwierig zu sagen, wie ihre Stimme bei Bach tönen würde.
Doch dann stiess ich auf ihre Interpretation der Winterreise von Schubert. Dreimal habe ich sie mir heute schon angehört. Ich hätte nie gedacht, dass mich neben der Fassbaender je eine andere Sängerin mit diesem Leidensgesang eines jungen Mannes berühren könnte.
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen, mit manchem Blumenstrauss.
Das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh‘
nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee.
Mein Gott, was macht diese Musik mit mir? Sie bringt wie keine andere meinen Schmerz und meine Sehnsucht zum Ausdruck. Doch je mehr ich mich damit beschäftige, je mehr ich in die Welt und Stimmung dieser Lieder eintauche, desto mehr scheint mich dieses magische Werk selber in diese Trauer, Verzweiflung und Verlassenheit zu treiben.
Wie tröstlich ist da die Vorstellung, dass die gleiche Stimme heute Morgen mit ihrem freudig jubilierenden Halleluja wieder etwas Licht und Wärme in die Nacht meiner Seele gebracht hat… auch wenn mich die Faszination dieses Lichtes einmalmehr um den Schlaf zu bringen droht.
Ein Licht tanzt freundlich vor mir her;
ich folg‘ ihm nach die Kreuz und Quer;
ich folg‘ ihm gern, und seh’s ihm an,
dass es verlockt den Wandersmann.
Ach, wer wie ich so elend ist.
gibt gern sich hin der bunten List,
die hinter Eis und Nacht und Graus
ihm weist ein helles, warmes Haus,
und eine liebe Seele drin –
nur Täuschung ist für mich Gewinn.
Sonntag, 2. Januar
Ich hatte kaum geschlafen und sass halb tot vor meinem Frühstück, als meine Mutter voller Begeisterung aus der Messe im Kloster zurückkam: Wir hätten heute Nachmittag einen Gast. Die junge Schwester komme zu Kaffee und Kuchen, ich wisse schon, die Bankerin, von der sie mir erzählt habe.
Ich konnte förmlich spüren, wie mir das Adrenalin ins Blut schoss. Nicht dass mir diese Nonne irgendetwas bedeutet hätte. Ich kannte sie kaum. Sie muss ins Kloster eingetreten sein, nachdem ich weggezogen war. Nur einmal war ich ihr kurz begegnet. Sie war ganz nett, aber nicht mein Typ. Doch die Hoffnung, von ihr etwas mehr über meine mysteriöse Sopranistin zu erfahren, versetzte auch mich in einen Zustand fiebriger Erwartung.
Von der Strasse her ein Posthorn klingt.
Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz?
Meine Mutter war wieder einmal ganz in ihrem Element. Sie liebt es über alles, Gäste zu verwöhnen, und hatte uns noch schnell einen Kuchen gebacken. Das elegante Kleid, das sie trug, hatte ich noch nie an ihr gesehen. Es steht ihr ausgezeichnet und schmeichelt ihrer Figur. Sie muss es gekauft haben, nachdem sie bei ihrer Pensionierung vor drei Jahren den ersten Achtsamkeitskurs bei der jungen Nonnen besucht hatte. Sie hat damals mit Rauchen aufgehört und dafür begonnen, täglich Shibashi zu machen. Ich wunderte mich schon etwas, wie gelassen sie auf einmal die zusätzlichen Kilos in Kauf nahm, aber noch mehr staunte ich über die harmonische Eleganz ihrer Bewegungen, als ich ihr heute Morgen bei ihren Übungen zusah.
Sie hegte eine fast schon peinliche Verehrung für ihre junge „Lehrerin“ und wusste dies nur mit Mühe zu verbergen, als wir heute Nachmittag mit unserem Gast vor dem brennenden Kaminfeuer sassen. Es sei so schön, dass es nun endlich einmal geklappt habe mit einem Besuch, eröffnete sie das Gespräch, nachdem sie uns mit Kaffee und Kuchen versorgt hatte. Wir seien ja so was von begeistert gewesen von dem gestrigen Gottesdienst. Wie denn dieser Priester noch mal heisse? Sie habe schon zu ihrem Mann gesagt, so eine Predigt hätten wir seit Jahren nicht mehr gehört. Und wie wunderbar die Nonnen immer wieder singen würden. Wie habe der alte Dorfpfarrer immer so schön gesagt: Eine gesunde Gemeinschaft erkenne man an ihrem Gesang. Und dann das Sahnehäubchen: diese fabelhafte Bachkantate. Was für eine Stimme! Sie sei im Tiefsten ihres Herzen berührt worden, und auch ihr Sohn habe heimlich ein paar Tränen vergossen, nicht wahr? Und natürlich hätten wir uns alle gefragt, wer denn da…
Die junge Nonne in ihrem schwarzen Gewand liess all das mit einem geduldigen Lächeln über sich ergehen, während sie ihre Finger an der Kaffeetasse wärmte und mich dabei immer wieder nachdenklich musterte. So sehr sich meine Mutter auch bemühte, mir war schnell klar, dass ich auf meine Frage keine Antwort bekommen würde. Irgendwann hat dann mein Vater das Zepter übernommen und sich bei der ehemaligen Bankerin nach ihrer Einschätzung der Entwicklung der internationalen Finanzmärkte erkundigt.
Die Post bringt keinen Brief für dich:
Was drängst du denn so wunderlich, mein Herz, mein Herz?
Als sich unser Gast schliesslich anschickte aufzubrechen, war es draussen schon dunkel. Sie müsse selbstverständlich nicht alleine im Finstern nach Hause gehen, meinte meine Mutter, während ich der Nonne in ihren schwarzen Daunenmantel half. Ich würde sie natürlich begleiten. Man wisse ja nie, was sich da heutzutage so alles herumtreibt.
Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum:
Ich träumt‘ in seinem Schatten so manchen süssen Traum.
Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort;
es zog in Freud und Leide zu ihm mich immerfort.
Ich musst‘ auch heute wandern vorbei in tiefer Nacht,
da hab ich noch im Dunkeln die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu:
komm her zu mir, Geselle, hier findst du deine Ruh‘!
Wie oft war ich damals diesen Weg gegangen, wenn ich SIE abends noch zurück in die Stadt begleitet habe. Er führt vorbei an dem Baum, unter dem wir uns zum ersten Mal geküsst hatten. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es tatsächlich eine Linde ist, aber ich weiss genau, was ich damals in die Rinde geritzt habe. Und ich war dankbar, dass es heute dunkel war und ich es nicht sehen musste.
Die Sterne funkelten durch die nackten Zweige der Bäume, als wir dem Fluss entlang Richtung Kloster marschierten. Die dunkle Gestalt schritt schweigend neben mir her, während ich leise den Anfang des „Lindenbaums“ sang. Ob sie Schubert kenne, fragte ich sie schliesslich, die Winterreise? Ein unheimliches Stück, ja fast schon mystisch. Wie dieser junge Mann Sehnsucht und Schmerz in Musik verwandelt habe, einfach sagenhaft!
Und dann erzählte ich ihr von der Stimme von gestern, einer Stimme, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: Die Stimme meiner Jugend und meiner ersten grossen Liebe. Wir waren schon im Kindergarten unzertrennlich. SIE half mir immer bei den Hausaufgaben und meine Mutter liebte SIE wie ihre eigene Tochter. Später waren wir zusammen auf der Musikakademie. Ich war gut, sehr gut sogar, aber SIE war besser. Ich hatte hervorragende Lehrer, aber das Wichtigste hatte ich von ihr gelernt: Die Liebe. Mein Gott, wie glücklich wir waren! Sobald wir unsere Diplome hätten, wollten wir heiraten.
Ich hatte mich damals in meinem jugendlichen Übermut zum ersten Mal an die Winterreise gewagt. Nie werde ich ihren Blick vergessen, als SIE mich beim Üben ertappte und mir kurzerhand die Noten weggenommen hat. Ich sei zu jung für dieses Werk, entweder ich verstehe es nicht oder es mache mich kaputt.
Ein halbes Jahr später hatte sie gleich selber dafür gesorgt, dass ich es verstehen werde. Ich war für eine Konzertreihe im Ausland, als ich die Nachricht bekam. Eine Joggerin hatte SIE am frühen Morgen im See gefunden. Ein Fremdverschulden war auszuschliessen. Ihre Kleider lagen säuberlich zusammengelegt am Ufer. In ihrem Blut fand man eine erhöhte Dosis des Medikamentes, dass sie gegen ihre Depressionen nahm. Doch einen Abschiedsbrief gab es nicht. Ihre beste Freundin war überzeugt, dass SIE es wollte. Ich will es nicht glauben.
Jahrelang hatte ich es nicht gewagt, die Winterreise wieder anzurühren. Dann vor einem Jahr kam mein Agent mit dem Projekt, diesen Liederzyklus aufzunehmen. Seither begleitet mich dieses Werk Tag und Nacht. Ich habe ihm alles geopfert und – mein Gott – wenn einer es heute verstehen kann, wer dann, wenn nicht ich!
Ob sie sich vorstellen könne, wie ich mich fühle, fragte ich die dunkle Gestalt neben mir, als wir schliesslich in die Klostergasse einbogen. Da versuche man verzweifelt, zu verzeihen und zu vergessen, und dann ertönt da mitten in den Schmerz und die Einsamkeit hinein diese Stimme. Ihre Stimme! SIE hatte diese Kantate bei ihrem Masterrezital singen wollen.
Die Erinnerung und der Schmerz hatten mir schliesslich die Sprache verschlagen, während wir langsam auf das Kloster zugingen. Und plötzlich meinte ich, es neben mir leise singen zu hören:
Nun bin ich manche Stunde entfernt von diesem Ort,
und immer hör‘ ich’s rauschen: du fändest Ruhe dort,
du fändest Ruhe dort.
Mein Gott, ich bin doch nicht verrückt! Sollte diese Nonne tatsächlich…? Aber nein, das kann einfach nicht sein! Warum sollte jemand wie sie den „Lindenbaum“ kennen. Ich muss mir das eingebildet haben. Vergeblich versuchte ich, ihren Blick zu deuten, als wir schliesslich an der Pforte unter der Laterne standen. Aber ihre Augen lagen im Schatten der Kapuze ihres Mantels, die sie sich tief in die Stirn gezogen hatte. Das feine Leder ihres Handschuhs fühlte sich kalt an, als sie mir zum Abschied die Hand gab.
Sie hatte die Tür bereits aufgeschlossen, da drehte sie sich plötzlich noch einmal um:
Wie es eigentlich meinem Sohn gehe? Der Kleine müsse doch sicher schon bald in die Schule kommen.
Bevor ich auch nur begriffen hatte, was sie sagte, war die Tür bereits hinter ihr ins Schloss gefallen.
Montag, 3. Januar, 13 Uhr
Die Worte der Nonne hatten mich wie eine Ohrfeige getroffen. Der brennende Schmerz wollte einfach nicht nachlassen, und als ich endlich doch eingeschlafen bin, haben sie mich noch im Traum verfolgt.
Die Sonne schien bereits durch meine Vorhänge, als ich mich endlich aus dem Bett wälzte. Der Frühstückstisch war noch gedeckt für mich, aber das Ei und der Kaffee waren kalt. Auf meinem Teller lag ein Zettel meiner Mutter: Vater hätte seinen Golf Tag und sie sei in die Stadt gefahren. Das Mittagessen ist im Kühlschrank.
Ich hatte mir in der Nacht fest vorgenommen, meine Frau anzurufen und mit meinem Jungen zu sprechen. Doch bevor ich mich dazu aufraffen konnte, läutete mein Telefon. Es war mein Agent. Wie lange ich noch brauche? Unser Pianist habe nur noch bis Ende Januar Zeit. Wenn ich bis in zwei Wochen nicht im Studio sei, könne ich die Winterreise vergessen.
Ich such’ im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur,
wo sie an meinem Arme durchstrich die grüne Flur.
Ich will den Boden küssen, durchdringen Eis und Schnee
mit meinen heissen Tränen, bis ich die Erde seh’.
Es geht nicht! Es geht einfach nicht. Seit drei Stunden sitze ich nun am Flügel im Salon meiner Eltern und versuchte, meine Stimme und meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Mein Gott, wenn es draussen wenigsten Eis und Schnee gehabt hätte, dann hätten die Tränen meiner Verzweiflung etwas zum Schmelzen gehabt. Aber da war überall nur dieses entsetzliche Grau. Und weit und breit niemand, an dessen Arm ich die grüne Flur durchstreichen könnte.
Sie halte das nicht mehr aus, hatte meine Frau gesagt, an diesem Sonntag vor drei Monaten, nachdem sie einmal mehr alleine mit dem Jungen zu ihren Eltern musste. Ich sei im Begriff, alles kaputt zu machen, unsere Ehe, unsere Familie und vor allem mich selber. Sie könne und wolle das nicht länger mitanschauen. Entweder ich ziehe aus, oder sie gehe mit dem Jungen, jetzt sofort! Eine Stunde später sass ich in einem Taxi zum Bahnhof.
Der Schock sass tief und um mich davon abzulenken, hatte ich mich nur noch mehr in die Winterreise gestürzt. Stundenlang hatte ich mir alle möglichen Einspielungen angehört und fieberhaft nach meinem ureigenen Ausdruck des Schmerzes gesucht.
Wo find’ ich eine Blüte, wo find’ ich grünes Gras?
Die Blumen sind erstorben der Rasen sieht so blass.
Ja, sie sind erstorben, meine Blumen. Alle, die ich liebe, haben mich verlassen. Wann wenn nicht jetzt könnte ich die Winterreise verstehen? Wann wenn nicht jetzt sollte ich diesem Werk meine Stimme leihen?
Soll denn kein Angedenken ich nehmen mit von hier?
Wenn meine Schmerzen schweigen, wer sagt mir dann von ihr?
Ich kann SIE nicht vergessen. Und ich will SIE nicht vergessen. Wie sollte ich meine Liebe vergessen wollen. Nein, nie! Und wenn es um den Preis des ewigen Schmerzes ist.
Auch wenn Du mich noch tausendmal verlässt, ich verlasse Dich nie!
Montag, 3. Januar, 23 Uhr
Mein Herz ist wie erfroren, kalt starrt ihr Bild darin:
Schmilzt je das Herz mir wieder, fliesst auch das Bild dahin.
„Ja, wenn es doch nur endlich schmelzen würde!“
Wie aus dem Nichts ertönte die Stimme meiner Mutter hinter mir, nachdem ich mich am Flügel sitzend zum x-ten Mal an diesem Nachmittag durch die „Erstarrung“ gekämpft hatte. Ich hatte sie nicht kommen hören und erst als sich ihre Hände auf meine Schultern legten und begannen, sanft meinen Nacken zu massieren, witterte ich den vertrauten Duft ihres Parfüms.
Meine Frau lasse mich grüssen, sagte sie mit diesem leisen Unterton in der Stimme, den ich nur zu gut kannte. Warum ich den Kleinen nicht wenigstens zum Neujahr einmal angerufen habe?
Ich ahnte, dass meine Mutter sich regelmässig mit ihrer Schwiegertochter traf, aber sie hatte mir bisher nie davon erzählt. Die beiden mochten sich von Anfang an und irgendwie hatte es mich immer irritiert, wie scheinbar mühelos meine Mutter die Neue in ihr Herz geschlossen hat, grad so, als ob es ihre erste „Tochter“ nie gegeben hätte.
Meine Stimme sei so hart und kalt wie das Phantom, dem ich hinterhertrauere, hörte ich sie sagen, nachdem sie ans Fenster getreten war und mit dem Rücken zu mir der untergegangenen Sonne nachschaute. Fassungslos starrte ich auf ihre aufrechte Gestalt, die sich gegen das Abendrot abzeichnete. Sie trug einen weiten, schwarzen Faltenrock über ihren eleganten Stiefeln und hatte sich den weissen Mohair-Strickmantel um die Schultern gelegt, den meine Frau für sie gestrickt hat.
Als ich mich schliesslich aus meiner Starre erhob, um zu protestieren, drehte sie sich um und schaute mir direkt in die Augen: Ob ich es denn wirklich nicht merke? Ob ich wirklich nicht sehe, wie sich meine Liebe in Hass verwandelt habe? Hass auf meine Liebsten, die mich verlassen haben. Und Hass auf mich selber, weil ich verlassen wurde. Der Hass habe mein Herz eingefroren, und mit ihm ein kaltes, erstarrtes Bild von IHR. Ja, wenn mein Herz erst schmelzen würde, könnte auch endlich ihr Bild dahinfliessen. Aber genau das wolle ich einfach nicht zulassen, weil dieses Bild doch schon lange nicht mehr SIE sei, sondern nur noch der willkommene Grund für meine verletzte Eigenliebe. Eigentlich drehe sich doch alles nur noch um mich, meine Einsamkeit, meine Kränkung und mein Selbstmitleid. Ob ich wirklich vergessen habe, was SIE mir damals gesagt hat? Ob ich wirklich nicht merke, wie sehr mich das alles kaputt mache?
Ich habe meine Mutter noch nie so erlebt: so eindringlich, fast flehend, und dabei so unglaublich entschlossen und stark. Sprachlos standen wir uns gegenüber. Erst als sich eine Träne aus ihren Augen löste, wandte sie sich abrupt wieder um. Ich sah, wie ihre Schultern bebten unter der flauschigen Wolle des Strickmantels, während ich selber verzweifelt versuchte, ihre Worte zu verdauen.
Draussen war es langsam dunkel geworden. Nur die Lampe beim Flügel gab uns etwas Licht und warf meinen Schatten auf den weissen Rücken meiner Mutter. Sie schien mir plötzlich etwas gebeugt. Irgendwann holte sie ein Taschentuch aus dem Ärmel, wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich die Nase. Ich konnte sie atmen hören, ruhig, tief, kontrolliert, so wie sie es von der jungen Schwester gelernt hat. Dann, nach einem besonders tiefen Atemzug, richtete sie sich auf, und wie aus der Dunkelheit heraus durchbrach ihre Stimme das quälende Schweigen, ruhig, kaum vernehmbar, und doch klar und bestimmt: „Ich möchte, dass du gehst, noch heute Abend!“
Eine Stunde später packte ich meine Koffer ins Taxi. Meine Mutter stand auf der Treppe vor dem Haus, den warmen Strickmantel fest vor der Brust zusammengezogen. Im Schein der Lampe glaubte ich Tränen auf ihren Wangen funkeln zu sehen. Und als der Wagen anfuhr und ich mich noch einmal umdrehte, stand mein Vater hinter ihr. Ich winkte ihm kurz zu, doch seine kräftigen Arme hielten meine Mutter fest umschlossen.
Dienstag, 4. Januar
Zum ersten Mal seit Wochen sitze ich beim Frühstück in meinem kleinen Studio in der Stadt, eingehüllt in die edle Alpaka-Strickjacke, die mir meine Frau zum 40. Geburtstag geschenkt hat. Seit drei Monaten hatte ich sie nicht mehr getragen.
Ich habe erstaunlich gut geschlafen, nachdem ich mir bis tief in die Nacht den ganzen Schmerz aus der Seele geweint hatte. Dabei habe ich auch von der jungen Nonne geträumt. Diesmal hatte sie ihre Kapuze zurückgeschoben und ich konnte ihre Augen sehen. Sie lächelten.
Meine Hand zitterte leicht, als ich schliesslich die Nummer meiner Frau wählte. Sie klang etwas überrascht aber nicht unwillig. Dem Kleinen gehe es gut, aber nein, er wolle nicht mit seinem Vater reden, hörte ich sie sagen, nachdem ich mitbekommen hatte, wie sie im Hintergrund miteinander tuschelten. « Lass ihm einfach etwas Zeit! »
« Und du? »
« Das weisst du doch, oder?
« Ja, ich weiss, lass mir etwas Zeit!
Nach dem dritten Kaffee fühlte ich mich endlich stark genug, meinen Agenten anzurufen. Er schien nicht wirklich überrascht. Dafür hatte er ein neues Angebot für mich: Die Matthäus-Passion von Bach, drei Aufführungen in der Karwoche. Ein junges aber engagiertes Team, das nach einem erfahrenen Evangelisten suche. Er schicke mir die Liste mit den Namen der anderen Solisten.
Der Name der ersten Sopranistin kam mir bekannt vor. Und tatsächlich, es ist die junge Italienerin, auf die ich an Neujahr gestossen war. Sie hat ein neues Profilbild. Das schwarze Kleid steht ihr ausgezeichnet. Ich stehe zwar nicht auf diesen schlanken, südländischen Typ, aber irgendwie erinnert sie mich doch an meine Frau: dieser selbstbewusste und doch so angenehm unaufdringliche, ja fast scheue Blick, und ihre Weise, die schwarze Strickjacke elegant um die Schultern drapiert zu tragen, diese eigentümliche Mischung aus Verletzlichkeit und Souveränität, die mich immer so an ihr fasziniert hat.
An Arbeit war in meinem Zustand heute definitiv nicht zu denken. Und so nahm ich meinen warmen Wintermantel und ging zum ersten Mal seit Monaten einfach so für ein paar Stunden hinaus an die frische Luft. Ich hatte mir eben eine Maß Bier und eine Schweinshaxe bestellt, in einem kleinen Biergarten, draussen an der wärmenden Sonne, als die Nachricht meiner Mutter kam:
„Du hast Deine Noten auf dem Flügel vergessen.
Ich habe sie zu mir genommen.“
Und da ich im Status sah, dass sie am Schreiben war, wartete ich gespannt. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Nachricht erschien:
„Ich habe Dich belogen!
Deine Stimme war nie hart und kalt.
Ganz im Gegenteil.
Es tut mir leid. Bitte verzeih mir.
In Liebe, Deine Mutter“
Ich brauchte eine Stunde, um ihr zu antworten:
„Lass mir etwas Zeit!“
Und seit einer weiteren Stunde starre ich immer wieder auf dieses eine Wort, das ich ihr noch schicken wollte:
„Danke!“
Zitate aus der Winterreise, op. 89, D 911 von Franz Schubert (1797-1828), Text von Wilhelm Müller (1794-1827)
Originalbild von proidee.de