Im Strudel der Ohnmacht (I, 1943)

„Um Himmels Willen, Pierre, was soll das? Bitte, sprich mit mir!“ Verzweifelt zerrte Jacqueline an den Stricken, mit denen sie an einen der soliden Holzstühle im Salon ihres Hauses gefesselt worden war.

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Eben noch sass die Witwe eines französischen Barons erwartungsfroh auf dem Sofa, wo sie es sich vor dem brennenden Kamin bequem gemacht hatte. Eingehüllt in die Jacke ihres Stricksets und mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern auf dem Tisch hatte sie auf einen Besucher gewartet, als wie aus dem Nichts der beste Freund ihres verstorbenen Gatten mit einer Pistole vor ihr aufgetaucht war. Bevor Jacqueline wusste, wie ihr geschah, hatte Pierre sie am Arm gepackt, zu einem Stuhl gezerrt und rücksichtslos gefesselt. Fassungslos und wie gelähmt vor Schreck schaute sie zu, wie er ihre Strickjacke vom Boden aufhob und sie ihr wieder um die Schultern legte.

„Ich mag es, wie du deine Jacken trägst, liebe Jacqueline. Dein Mann hatte dich nicht zuletzt darum verehrt“, hörte sie ihn sagen, wobei eine wütende Kälte in seiner Stimme lag: „Und offensichtlich ist auch Oberst Müller nicht unempfänglich für deine Form von Eleganz“.

„Um Himmels Willen, Pierre, was erzählst du da! Es ist nichts zwischen Oberst Müller und mir. Du musst mir glauben. Er kommt zu mir, weil er mit uns… nein, warte bitte! Hör mir zu! Ich mgghhhh…!“, versuchte Jacqueline verzweifelt, das Drama aufzuhalten. Doch Pierre war nicht zu Diskussionen aufgelegt und stopfte ihr kurzerhand einen der Ärmel ihrer Strickjacke als Knebel zwischen die Zähne. Tränen der Verzweiflung standen in ihren Augen, während eine weisse Stoffserviette zusammengefaltet und fest um ihren Mund gebunden wurde.

Ungläubig starrte Jacqueline auf die Stricke, die ihren Körper straff an den Stuhl fixierten, während sich die Gedanken und Fragen in ihrem Kopf jagten: Was war nur in Pierre gefahren? Wie sollte sie ihm verständlich machen, dass Oberst Müller auf ihrer Seite stand? Dass er genug hatte von Hitler und seinem Krieg. Dass er seit einigen Wochen versuchte, über sie mit der französischen Résistance Kontakt aufzunehmen. Ihre Beziehung war doch die perfekte Tarnung. Niemand käme auf die Idee, Jacqueline, die Witwe des angesehenen Barons, zu verdächtigen. Aber wie sollte sie das Pierre verständlich machen? Und wie sollte sie Oberst Müller warnen? Die einzige Hoffnung war ihre Haushälterin oder der Gärtner…

„Du brauchst dich nicht umsehen, liebe Jacqueline. Marie wird uns nicht stören, und auch um Clément habe ich mich gekümmert. Er liegt gefesselt und geknebelt im Geräteschuppen“. Wie betäubt vernahm sie Pierres Worte, der sich unterdessen hinter der Tür versteckt hatte. „Es ist alles bereit für ein kleines Tête-à-Tête mit unserem deutschen Freund.“

Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Jacqueline fühlte sich wie in einem Alptraum.  Auf alle möglichen Situationen und Gefahren hatte sie sich in den letzten Wochen eingestellt. Wie oft hatte sie davon geträumt, dass die Gestapo plötzlich vor dem Haus steht? Aber Horst, Oberst Müller, hatte sie immer beruhigt. Seine kräftigen Arme gaben ihr die nötige Sicherheit und Geborgenheit, wenn sie nachts schweissgebadet aufwachte. Er war der erste Mann seit dem Tod ihres Gatten, der es geschafft hat, ihr Herz zu berühren. Er hat ihrem Leben wieder Sinn gegeben, in jeder Beziehung.

Umso tiefer war das Gefühl der Ohnmacht, als Jacqueline nun hilflos zusehen musste, wie sich die Tür zum Salon öffnete und der deutsche Wehrmachtsoberst in die Falle ging. Verzweifelt schrie sie in ihren Knebel, als der Offizier mit dem um die Schultern gelegten Ledermantel den Salon betrat. Doch als der Mann vor ihr stand und sie das Gesicht sah, das ihr unter der Schirmmütze entgegenblickte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen: Clément, der Gärtner. Fassungslos sah sie zu, wie in dessen Rücken Pierre mit der Pistole in der Hand hinter der Tür hervor trat. Doch gleichzeitig tauchte in der Tür hinter Pierre ein dunkler Schatten auf. Oberst Müller trug Cléments schwarzen Rollkragenpullover und mehr als ein gezielter Schlag gegen den Hals brauchte er nicht, um den völlig überrumpelten Pierre ausser Gefecht zu setzen.

„Mein Gott, Horst, wie bin ich froh!“ atmete Jacqueline erleichtert auf, als ihr Oberst Müller den Knebel aus dem Mund zog. „Es tut mir so leid, aber es ist alles ein schreckliches Missverständnis. Pierre ist einer unserer besten Leute. Er konnte nicht wissen…“

„Wir konnten es auch nicht wissen, meine Liebe, bis jetzt“, hörte sie den Oberst sagen. Und als sie das Lächeln in seinen Augen sah, wurde ihr plötzlich schwindlig. „Du hast uns und euch beiden eben ein paar Stunden Verhör erspart, liebe Jacqueline. Clemens, kümmere dich bitte um Madame und ihren Freund. Sie sind verhaftet wegen Hochverrats!“

„Lasst die Finger von Madame, ihr verdammten Gestapo-Schweine!“

Wie in Trance starrte Jacqueline auf die Gestalt, die plötzlich in der Tür erschienen war: Maries Stimme klang wie ein Peitschenhieb durch den Raum. Kühle Entschlossenheit stand in den Augen der jungen Haushälterin. Ihre schlanken Hände in den schwarzen Lederhandschuhen schienen mit dem schimmernden Stahl der Sten Maschinenpistole zu verschmelzen, die ohne das leiseste Zittern auf Oberst Müller gerichtet war: „Pierre hat es von Anfang an gewusst!“

Und dann sah Jacqueline, wie Maries Finger am Abzug sich langsam zu krümmen begann. Sie wollte schreien, doch ein trockenes, metallenes Klicken kam ihr zuvor.

Ladehemmung.

Einen Moment lang schien die ganze Szene wie eingefroren. Totenstille erfüllte den Raum. Dann begann sich alles um Jacqueline wie in Zeitlupe zu bewegen: Ein höhnisches Grinsen breitete sich langsam über Oberst Müllers Gesicht, während Marie mit einem Ausdruck von Panik auf ihre Maschinenpistole starrte. Verzweifelt begann ihre Hand am Verschluss der Sten zu zerren, während Clément den schweren Offiziersmantel von seinen Schultern warf und seine Waffe aus dem Holster zog. Und wie aus dem Nichts hatte auch Oberst Müller eine Pistole in der Hand. Und während seine Linke den Schlitten nach hinten zog, um durchzuladen, tasteten Pierres Finger vor Jacquelines Füssen benommen nach dem Griffe seiner Pistole, die neben seinem Kopf auf dem Teppich lag.

„Nein!“, hörte sich Jacqueline noch wie aus weiter Ferne schreien, während sich ihr Körper wuchtig gegen die Fesseln stemmte.

Dann wurde alles von einem lauten Knall erstickt…

Verletzter Held

Thorsten ging es gut. Zum ersten Mal seit seiner vorzeitigen Pensionierung vor fünf Jahren ging es ihm wirklich gut. Er genoss den salzigen Geruch des Meeres, der sich mit dem herben Duft seines Kaffees vermischte, als er auf der Veranda seines Hauses frühstückte. Über dem Wasser quietschten die Möwen, während sich hinter ihm im Radio die Morgennachrichten ankündigten.

009 Verletzter Held

Seit zwei Jahren hatte Thorsten dieses kleine, idyllische Haus an der Nordsee, und seit zwei Monaten hatte er sie. Sie war Mitte fünfzig, Mutter von drei Kindern und seit fünf Jahren verwitwet. Es war Liebe auf den ersten Blick. Und heute wollte sie zum ersten Mal kommen, mit dem Zug um 16 Uhr, um seinen 60. Geburtstag mit ihm zu feiern. Seit Tagen hatte er sich auf diesen Moment gefreut.

Er war gerade im Begriff, sich eine zweite Tasse Kaffee aus der Maschine zu lassen, als er im Radio plötzlich den Namen des benachbarten Dorfes hörte: „… in der Nähe von Dornum wurde in der vergangenen Nacht ein junges Ehepaar von maskierten Tätern in ihrem Haus überfallen. Trotz sofort eingeleiteter Fahndung fehlt von den Tätern bis zur Stunde jede Spur.“ Wie gelähmt stand Thorsten da und es war ihm, als ob in ihm drin all die Mauern ins Wanken gerieten, die er sich in den letzten Jahren so mühsam aufgebaut hat. Plötzlich war sie wieder da, diese Angst, diese lähmende Ohnmacht und das nagende Schuldgefühl. Plötzlich war er wieder da, der „kleine“ Thorsten.

Seine Hände zitterten, als er sich mit der Tasse Kaffee an den Tisch setzte. Was war nur mit ihm los? Und warum ausgerechnet jetzt? Natürlich kannte er diese Gefühle nur zu gut. Aber er hatte doch gehofft, sie endlich einmal einigermassen im Griff zu haben, nach fünf Jahren Therapie, nach fünf langen Jahren geduldiger Versöhnungsarbeit mit dem „kleinen“ Thorsten. Sollte denn alles Vergeblich gewesen sein? Sollte es ihnen letztlich doch gelungen sein, ihn zu zerstören?

Es war an einem Donnerstag im Oktober, vor genau fünf Jahren. Sie kamen in den frühen Morgenstunden, maskiert, mit schallgedämpften Waffen. Thorsten wurde brutal aus dem Bett gezerrt und gezwungen sich anzukleiden, während einer der Männer sich um seine Frau kümmerte. Nie wird er ihren verzweifelten Blick vergessen, als er sie hilflos mit Klebeband gefesselt und geknebelt in den Händen dieses Mannes zurücklassen musste. Die Männer waren gar nicht begeistert, als ihnen klar wurde, dass er als Filialleiter den Haupttresor nicht alleine öffnen konnte. Es waren die längsten zwei Stunden seines Lebens, ausgestreckt auf dem Boden des Personalraums, an Händen und Füssen gefesselt und mit seinen eigenen Socken im Mund geknebelt. Und dann hörte er sie kommen. Zuerst das Geräusch ihrer Wagen, dann das Klappern ihrer Schuhe, dann ihre Schlüssel. Ahnungslos gingen sie in die Falle, als erste die Kassiererin, dann wenige Minuten später seine Stellvertreterin und die Praktikantin. Und er konnte nichts dagegen tun. Nie wird er das ätzende Geräusch des Klebebandes vergessen, als die Frauen eine nach der anderen neben ihm auf dem Boden gefesselt und geknebelt wurden. Und immer wieder sah er ihre verzweifelten Gesichter vor sich, die ihn flehend anschauten, bevor sie hinter den Seidentüchern und Strickjacken verschwanden, die man ihnen um die Augen band.

Thorsten hatte versucht zu vergessen. Aber es ging nicht. Kopfschmerzen, Panikattacken, Alpträume, und immer öfter mal etwas zu viel Alkohol. Erst wurde er krankgeschrieben. Dann nach einem Jahr liess er sich vorzeitig pensionieren. Offizielle Diagnose: Burnout. Kurz danach verliess ihn seine Frau. Sie schien zwar den Überfall einigermassen verdaut zu haben, war aber mit der Situation ihres Mannes überfordert. Von einem Tag auf den anderen war er ein gebrochener Mann, geplagt von Ängsten und Schuldgefühlen. Er hatte zwar sofort eine Therapie begonnen, aber es sollte drei Jahre dauern, bis plötzlich die Bilder wieder kamen und er bereit war, dem „kleinen“ Thorsten zu begegnen.

Thorsten war damals sehr klein, kaum sechs Jahre alt, als ihm schlecht war und er früher aus dem Kindergarten nach Hause kam. Seine Mutter war alleinerziehend, arbeitslos und nicht selten krank. Als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, hörte er sie stöhnen, heftig stöhnen. Sie lag im Bett, nackt, über ihr ein Mann, riesig und nackt. Ihre Hände waren in seinen Rücken gekrallt, ihr Kopf in den Nacken geworfen, ihre Augen geschlossen. Der kleine Thorsten wollte schreien. Aber er konnte nicht. Er versteckt sich in seinem Zimmer, am Boden hinter dem Schrank, zitternd mit angezogenen Knien und nasser Hose. In diesem Moment begriff er ein für allemal: Er konnte seine Mutter nicht beschützen.

Es war unterdessen 11 Uhr. In einer halben Stunde würde sie den Bus nehmen, der sie zum Bahnhof bringt. Thorsten spürte die quälende Angst in seinem Bauch. Vor seinen Augen tauchte immer wieder das junge Paar auf, nachts in ihrem Ferienhaus, kaum mehr als zwei Kilometer entfernt. Vielleicht sass er noch auf der Veranda, als es geschah. Und immer wieder sah er diese Gesichter vor sich, der flehende Blick seiner Frau, die verzweifelten Tränen seiner Praktikantin, die hilflose Wut der Kassiererin, und das verzerrte Gesicht seiner Mutter. Er hatte ihnen nicht helfen können. Er hatte sie nicht beschützen können.
Er würde auch sie nicht beschützen können.

Der Kaffee war schon lange kalt geworden, als er schliesslich nach dem Telefon griff. Minutenlang hielt er es in seinen Fingern, bis er endlich ihre Nummer wählte. Sein Herz pochte laut in seiner Brust, als er auf den Klingelton wartete. Aber sie hatte die Combox eingeschaltet. Verzweifelt suchte er nach den Worten, die er sagen wollte. Doch als der Piepton kam, hielt er plötzlich inne. Schweigend starrte er aufs Meer hinaus, während das Band ablief. Und als das Schlusszeichen ertönte, schaltete er das Telefon aus.

Er hatte noch viel zu erledigen, bis sie kam. Entschlossen nahm es seine Jacke vom Haken und machte sich auf den Weg ins Dorf. Er wollte sich noch die Haare schneiden lassen. Und dann brauchte er noch ein paar Rosen, weisse, die mochte sie so gern…